Süddeutsche Zeitung

Missbrauch an der Odenwaldschule:Aussitzen statt Aufarbeitung

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Die Schulleitung bemüht sich um Aufklärung, doch Hartmut von Hentig, der Lebensgefährte des Ex-Schulleiters empfiehlt in einem internen Brief das Gegenteil: den Skandal an der Odenwaldschule auszusitzen.

Die Schulleitung bemüht sich Monaten um die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule - jetzt schießt der Lebensgefährte des inzwischen verstorbenen Ex-Schulleiters Gerold Becker quer. Er empfiehlt eine ganz andere Strategie: aussitzen.

Dafür hat sich der Reformpädagoge Hartmut von Hentig jedenfalls intern ausgesprochen. Noch im Mai 2010 schrieb er in einem Brief, der der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vorliegt: "Meine (nicht leicht einzuhaltende) Strategie: aussitzen". In vier Jahren könne man dann "in Ruhe auf all dies zurückblicken und 'lernen' - oder wir haben einen neuen Fundamentalismus, der auch die letzten Regungen der Aufklärung beseitigt".

Der um Aufklärung bemühten derzeitigen Leiterin der Odenwaldschule in Heppenheim, Margarita Kaufmann, warf er in dem Brief an den Sohn eines Weggefährten "Schädlichkeit für die Schule, für die Pädagogik, für die Sache der Opfer" vor.

Nach einem am Freitag vorgelegten vorläufigen Abschlussbericht waren von dem Missbrauch in dem Elite-Internat 132 Schüler betroffen. Die Taten liegen meist Jahrzehnte zurück. In den vergangenen neun Monaten hatte die Reformschule heftige Turbulenzen erlebt, es gab Streit und Rücktritte im Vorstand.

In einem anderen Brief, den er im April 2010 einem geschlossenen Kreis übermittelte, verteidigte Hentig seinen Partner, den im Juli 2010 gestorbenen Gerold Becker. Dass Becker bis zuletzt nicht über seine Taten offen geredet habe, sei - wenn überhaupt - "ein taktischer" Fehler gewesen, schrieb Hentig. Hätte er früher von Beckers Taten gewusst, so hätte er ihn "mit aller Kraft meiner Freundschaft dazu gebracht", die Opfer um Entschuldigung zu bitten und die Schule zu verlassen. So hätte Becker "leidvollen Spannungen, möglichen Erpressungen und dem Verlust seines Ansehens in der Pädagogik" entgehen können.

Der Missbrauchsskandal, der den Ruf des renommierten Internats nachhaltig beschädigte, war im Frühjahr bekannt geworden. Damals häuften sich Berichte über den sexuellen Missbrauch von Kindern in Bildungseinrichtungen der katholischen Kirche und auch in anderen Internaten. Die Vorkommnisse im Odenwald, wo systematisch Jugendliche missbraucht wurden, waren dabei eines der erschütternsten Beispiele.

Die neue Schulleitung der Odenwaldschule reagierte mit einem konsequenten Aufklärungskurs. Die katholische Kirche tat sich damit schwerer und ihre abwartende Haltung und der Unmut der Gläubigen darüber macht sich inzwischen auch in einer höheren Zahl an Kirchenaustritten bemerkbar. Besonders deutlich wurde das im Bistum Ausburg, wo die Affäre um Bischof Mixa hinzukam. Der geriet im Frühjahr auch deshalb unter Druck, weil er zugeben musste, in seiner Zeit als Stadtpfarrer von Schrobenhausen Heimkinder geschlagen zu haben. Erst nach einem heftigen öffentlichen Schlagabtausch reichte er im April seinen Rücktritt ein. Er hatte erkannt zu spät erkannt, dass er mit der Strategie "Aussitzen" gescheitert war.

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