Saskia Esken hat vorgelegt. „Wir sorgen für höhere Einkommen, indem wir den Mindestlohn auf 15 Euro erhöhen“, sagte Esken, als sie vorige Woche zusammen mit ihrem SPD-Co-Chef Lars Klingbeil und den Vorsitzenden von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, den Koalitionsvertrag vorstellte. Esken präsentierte den Mindestlohn von 15 Euro als prominenten Vorzug einer schwarz-roten Regierung, um die SPD-Mitglieder zu motivieren, für eine Koalition mit der Union zu stimmen.
Im Koalitionsvertrag steht allerdings nicht, dass eine künftige Regierungskoalition den Mindestlohn per Gesetz auf 15 Euro erhöhen wird, so wie die Ampel das mit dem Sprung auf 12 Euro getan hatte. Stattdessen steht hier ein schwarz-roter Kompromiss. Doch der wird von SPD und Union unterschiedlich interpretiert und löst nun einen ersten großen Streit unter Schwarzen und Roten aus, obwohl Merz erst im Mai zum Kanzler gewählt wird.
In den Koalitionsverhandlungen hatten die SPD-Fachpolitiker gefordert, das Mindestlohngesetz zu ändern. Doch in den Koalitionsvertrag schaffte es nur die Aussage, dass „ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“ sei. Man muss kein Jurist im Bundesarbeitsministerium sein, um zu verstehen, dass „ist erreichbar“ nicht dasselbe bedeutet wie „wir erhöhen“. Zuständig für die Lohnuntergrenze bleibt unter Schwarz-Rot somit die Mindestlohnkommission. In ihr sitzen Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Die Kommission entscheidet, wie stark der Mindestlohn steigt. Auch hier hatten sich die SPD-Unterhändler mehr gewünscht. Sie wollten den Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission ein Vetorecht geben, indem Konsensentscheidungen vorgeschrieben würden. Aber auch das findet sich nicht im Koalitionsvertrag.
Daher machte Merz einen zutreffenden Punkt, als er in einem Interview am Wochenende gefragt wurde, ob ein Mindestlohn von 15 Euro auf jeden Fall komme: „Das haben wir so nicht verabredet“, antwortete er nämlich. „Wir haben verabredet, dass wir davon ausgehen, dass die Mindestlohnkommission in diese Richtung denkt, es wird keinen gesetzlichen Automatismus geben.“
Die Berechnungsgrundlage für den Mindestlohn hat sich inzwischen geändert
In der SPD wird der Verweis auf die 15 Euro im Koalitionsvertrag trotzdem lobend erwähnt. Die eigenen Verhandlungserfolge zu übertreiben, gehört zum Politikerleben wie das Parteibuch. Doch die Sache mit dem Mindestlohn ist an dieser Stelle nicht zu Ende. Die Sozialdemokraten könnten nämlich später doch noch recht bekommen, zumindest näherungsweise. Darauf verweist ein zweiter Satz aus dem Koalitionsvertrag. Dieser lautet: „Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren.“
Um diesen Satz zu verstehen, muss man wissen: Bislang hat sich die Mindestlohnkommission an Tarifabschlüssen orientiert. Doch im Januar hat sich die Kommission eine neue Geschäftsordnung gegeben, in der „60 Prozent des Bruttomedianlohns“ neben der Entwicklung der Tariflöhne erstmals als Orientierungswert genannt werden. Der Medianlohn teilt die Arbeitnehmerschaft in zwei gleich große Gruppen, die einen verdienen mehr als den Median, die anderen weniger.
Im Koalitionsvertrag bestätigen Union und SPD im Wesentlichen also die bestehende Lage. Dass der Median überhaupt ein Faktor beim Mindestlohn ist, dafür hatten die Gewerkschaften lobbyiert. Entsprechend positiv äußert sich nun daher der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) über den Koalitionsvertrag. „Das ist eine Willenserklärung der Bundesregierung, die den Orientierungsrahmen der Mindestlohnkommission beschreibt“, sagt Stefan Körzell der Süddeutschen Zeitung. Er ist DGB-Bundesvorstand und Mitglied der Mindestlohnkommission. Für Merz’ Zwischenruf hat er dagegen kein Verständnis. „Es ist bitter, dass das schon infrage gestellt wird, obwohl die Bundesregierung formell noch gar nicht gebildet ist“, sagt Körzell. „Das richtet sich gegen sechs Millionen Menschen, die Mindestlohn beziehen. Die haben das bitter nötig wegen der steigenden Preise.“
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wollte sich auf Anfrage nicht zu dem Streit äußern. BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter, der ebenfalls in der Mindestlohnkommission sitzt, hatte in der Vergangenheit allerdings stets allergisch auf politische Einflussversuche reagiert. Als SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil vergangenen September bereits eine Anhebung auf 15 Euro im Jahr 2026 forderte, kritisierte Kampeter dies als Belastung für die Arbeit der unabhängigen Kommission und kündigte an, die BDA werde einen Ausstieg aus dem Gremium prüfen. Selbstverständlich werde sich die Kommission auch künftig an nationale und internationale Vorgaben halten. Dies seien aber „Orientierungsgrößen, die kein bestimmtes Ergebnis vorgeben“.
Politisch zusätzlich aufgeladen wurde das Thema durch die Entscheidung der Kommission 2023. Damals wurden sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter nicht einig. Nur durch die Stimme der Kommissionsvorsitzenden Christiane Schönefeld gab es eine Mehrheit, die Gewerkschaftsvertreter wurden überstimmt. Der Mindestlohn wuchs Anfang 2024 und Anfang 2025 um jeweils 41 Cent.
Die Kommission tritt bald wieder zusammen. Die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung hat schon mal geschätzt, was je nach Rechenweg herauskommen könnte. Anhand der Tariflöhne könnte der Mindestlohn demnach auf 14,26 Euro steigen – ein deutliches Plus auf die derzeitigen 12,82 Euro, aber eben selbst gerundet keine 15 Euro. Beim Median dagegen würden 14,88 bis 15,02 Euro herausgekommen. Sowohl im Koalitionsvertrag als auch in der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission werden beide Rechenwege erwähnt. Die stumpf gerechnete mathematische Mitte zwischen beiden Varianten läge bei rund 14,60 Euro – und damit auch bei knapp 15 Euro. Ob ein solches Ergebnis alle Beteiligten zufriedenstellt, bleibt abzuwarten.