Mindestlohn-Debatte:Merkel entkernt die CDU

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Schnell, schneller, Merkel: Innerhalb eines Jahres hat die Kanzlerin die Wehrpflicht abgeschafft, den Atomausstieg beschlossen, sich von der Hauptschule verabschiedet. Und jetzt freundet sich Angela Merkel auch noch mit dem Mindestlohn an. Vom konservativen Markenkern der Partei bleibt da nicht mehr viel übrig. Die Erklärung für den Kurswechsel bleibt sie wieder einmal schuldig.

Thorsten Denkler, Berlin

Stellen Sie sich vor, ein altgedienter Christdemokrat schlägt an diesem Morgen die Zeitung auf und da steht dann: CDU für Mindestlohn. Erst wird er sich die letzten Schlafkrümel aus den Augen reiben. Vielleicht hat er sich ja einfach verlesen. Dann wird er für eine Sekunde an seinem Verstand zweifeln. Aber es hilft nichts. Da steht immer noch CDU. Nicht SPD. Nicht Grüne. Nicht Linke.

Sie krempelt das Programm der CDU mächtig um: Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Foto: Bloomberg)

Wenn alle Zweifel an der Richtigkeit der Meldung beseitigt sind, wird er sich fragen, wer in Gottes Namen eigentlich diese Kuckuckskanzlerin zur Parteivorsitzenden gemacht hat.

Die neue Familienpolitik haben viele Christdemokraten Angela Merkel ja schon fast vergeben und vergessen. Aber so wie die Kanzlerin innerhalb eines Jahres die inhaltlichen Positionen der CDU umgekrempelt hat, fällt es schwer, noch von einer konservativen Partei zu reden.

Wehrpflicht abgeschafft, Atomkraft abgeschafft. Hauptschule faktisch für tot erklärt. Und jetzt: Mindestlohn reanimiert, nachdem er bis vor kurzem in der CDU von ganz oben für mausetot erklärt worden war.

Selbst mit Sozialdemokratisierung ist der Wandel der CDU nicht hinreichend beschrieben. Es ist, als wollte Merkel die Partei neu erfinden.

Das ist dringend notwenig, darüber besteht kaum Zweifel und gilt auch für den Mindestlohn. Löhne sind menschenunwürdig, wenn davon keine Familie ernährt werden und allzuoft sich nicht mal eine Person ohne staatliche Hilfe über Wasser halten kann. Es muss Grenzen nach unten geben. Manche gelernte (!) Friseuse verdient nur knapp über drei Euro die Stunde. Ein alltäglicher Skandal.

Merkel erklärt den CDU-Wählern ihre Neupositionierung nicht

Nur, was nutzt es, das Richtige zu tun, wenn dann die Wähler nicht dahinterstehen? Die SPD hat für die Umsetzung der Agenda 2010 einen hohen Preis bezahlt - und die verlorengegangenen Wählerstimmen bis heute nicht zurückgewonnen.

Das kann keinen Demokraten freuen. Deutschland braucht stabile und große Volksparteien, da das ganze politische System darauf ausgerichtet ist. Drei-Parteien-Koalitionen tun einem Land auf Dauer nicht gut, wenn etwa über den Bundesrat ohnehin schon reihenweise mehr schlechte als rechte Großkompromisse geschlossen werden müssen.

Merkel aber ist gerade dabei, ihre Wähler auf ihrem Weg der Reformen nicht mitzunehmen - wie einst Gerhard Schröder. Hier geht es ja nicht um Korrekturen bestehender Positionen. Hier geht es um radikale Kehrtwenden, um eine Neuausrichtung. Das bedarf der Erklärung.

Die CDU hat immer für sich in Anspruch genommen, im Kern unideologisch zu sein. Das stimmt nicht. Die Ideologie der Christdemokraten besteht im Festhalten an vermeintlich Bewährtem. Deshalb hat sie gerne die Augen verschlossen vor gesellschaftlichen Entwicklungen. Merkel ist jetzt mehr als zehn Jahre Parteivorsitzende. Sie hätte Zeit genug gehabt, die Partei auf sanfte Art umzubauen. Nämlich "Schritt für Schritt", wie es etwa in der Euro-Krise ihr Credo ist.

Stattdessen hat sie all die Gestrigkeiten der CDU immer unterstützt. Bis zum Schluss hat sie die Wehrpflicht verteidigt, die Atomkraft für richtig gehalten, die Hauptschule als Kernbestandteil christdemokratischer Bildungspolitik charakterisiert, den Mindestlohn verteufelt. Und dann wurde schlagartig alles über Bord geworfen.

Das Problem ist nicht der Wechsel der Positionen. Das Problem ist die atemberaubende Geschwindigkeit, in der das passiert. Viele Unionsanhänger kommen einfach nicht mehr mit. Anders als die meisten Zieheltern von Kuckuckskindern erkennen sie aber, was Merkel ihnen da ins Nest gelegt hat. Das macht es ihnen nicht einfacher, beim nächsten Mal wieder CDU zu wählen.

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