Süddeutsche Zeitung

Minderheitsregierung:Zukunftsmodell NRW

In Nordrhein-Westfalen startet das Laboratorium Minderheitsregierung - erstmals in einem großen westdeutschen Flächenland. Das ist eine große Chance für die Demokratie. Die Parteien müssen sie nur nutzen.

Thorsten Denkler

Die CDU hat es schon getan, die FDP war auch dabei, SPD und Grüne sowieso und Linke erst recht. Alle Parteien haben schon mal in der einen oder anderen Form an Minderheitsregierungen mitgewirkt. Mal hielten sie nur wenige Wochen, mal einige Jahre. Eine hielt sogar eine ganze Legislaturperiode.

Und doch wird so getan, als werde in Nordrhein-Westfalen gerade das politische Rad neu erfunden. Eine völlig unbekannte Regierungsform wird also nicht ausprobiert, nachdem an diesem Montag die Spitzen von SPD und Grünen ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet haben, obwohl ihnen im Landtag eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlt. Am Mittwoch soll SPD-Spitzenfrau Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt werden.

Und doch ist es ein in dieser Größenordnung nie dagewesenes Experiment - eines, das die Republik verändern kann, wenn es glückt.

Technisch ist alles geklärt. Zur Wahl von Hannelore Kraft reicht die einfache Mehrheit von Rot-Grün. Solange sich die Linke in ausreichender Zahl wenigstens der Stimme enthält, kann nichts passieren: keine Ypsilanti-Falle und kein Heide-Mord. Und auch danach reicht die einfache Mehrheit, selbst wenn es gilt, den Haushalt zu verabschieden.

Politisch aber wird in Nordrhein-Westfalen Geschichte geschrieben, die zu einer notwendigen Erneuerung der politischen Kultur führen kann. Jedenfalls könnte es so kommen, wenn alle Parteien begreifen, welche Chance da vor ihnen liegt.

Die bisherigen Minderheitsregierungen galten immer als Notlösung, als Provisorium, als Ausnahmeerscheinung. Nicht vorgesehen, nicht gewollt. Die rot-grüne Minderheitsregierung dagegen ist die logische Konsequenz aus dem noch jungen Fünf-Parteien-System der Republik, in dem die Linke sich als notorisch regierungsunfähig und regierungsunwillig erweist und die große Koalition sowohl von SPD als auch von der Union als das unsexiest Bündnis aller Zeiten diskreditiert wurde

Trotz aller Unwägbarkeiten: Diese Minderheitsregierung ist kein Notfall, sie ist gewollt und gewünscht.

Für die rot-grüne Regierung von Hannelore Kraft heißt das: Sie hat künftig nicht immer recht und kann gute Argumente nicht schon deshalb von sich weisen, weil sie von der Opposition kommen. Sie wird Angebote machen müssen und im Zweifel den Mehrheitswillen des Parlaments zu achten haben, selbst wenn er den eigenen Überzeugungen widerspricht.

Für die sogenannten Oppositionsparteien CDU, FDP und Linke bedeutet dies: Sie müssen entweder schnell lernen, das altbekannte Freund-Feind-Schema hinter sich zu lassen, um einen neuen Geist demokratischer Kooperation zu etablieren. Oder sie geraten unter den akuten Verdacht der Verantwortungsverweigerung.

Zu befürchten ist, dass sich eine Linie durchsetzt, wie sie Karl-Josef Laumann, der neue Fraktionschef der NRW-CDU im Düsseldorfer Landtag, vorgegeben hat. Er sehe es als seine Aufgabe an, möglichst schnell Neuwahlen herbeizuführen, wird er zitiert.

Eine fatale Argumentation. Nicht nur ist dieser Satz ein Eingeständnis, dass er nicht bereit ist, den am 9. Mai postulierten Wählerwillen zu respektieren. Mit Radikalopposition in einer Situation, in der er gestalten könnte, zeigt Laumann irritierende Politikunfähigkeit. Eine Partei, die sich vorstellen konnte, mit SPD wie mit Grünen zu koalieren, kann sich jetzt nicht in die Schmollecke zurückziehen und so tun, als ginge sie das Land nichts mehr an.

Das gilt auch für die anderen Parteien in der Opposition. Sie haben einen Auftrag vom Wähler bekommen. Dem sollten sie gerecht werden. Sie können bis zu einem gewissen Grad das Land mitgestalten, auch wenn sie nicht Teil der Regierung sind. Wenn es stimmt, was Politiker aller Parteien immer wieder sagen - dass es ihnen nur um Inhalte gehe, um das Wohl des Landes, der Menschen - dann müssen sie lernen, für ihre Inhalte zu streiten.

Erst recht dann, wenn es sogar reelle Chancen gibt, die eigenen Überzeugungen Politik werden zu lassen.

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