Süddeutsche Zeitung

Minderheitsregierung:Pragmatisch

Was bisher als politischer Unfall galt, wird bald Normalität werden. Fürchten muss man sich davor nicht.

Von Jan Heidtmann

Ob "hessische Verhältnisse" oder "Magdeburger Modell" - im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist die Minderheitsregierung als politischer Unfall verbucht. Das ist so, seit es 2008 für kurze Zeit die CDU in Wiesbaden traf, und seit Sachsen-Anhalts SPD-Ministerpräsident Reinhard Höppner acht Jahre so regierte. Trotzdem ist es richtig, dass Bodo Ramelow, linker Regierungschef in Thüringen, jetzt für die Minderheitsregierung wirbt. Denn was bisher eher als Systemfehler galt, wird bald zu den Werkzeugen der Regierungsbildung jenseits der AfD gehören.

Die Prognosen für die Wahlen in Sachsen und Brandenburg liefern dafür erste Anzeichen: Sie skizzieren eine Zäsur für das politische System. In Brandenburg zum Beispiel kämpfen derzeit drei Parteien um Platz eins; darunter auch die SPD, die das Land 30 Jahre regiert hat. Dass dies nicht nur ein Phänomen in Ostdeutschland ist, darauf weisen die Umfragen auf Bundesebene hin: Die Koalition aus CDU und SPD hat da schon lange keine Mehrheit mehr. Die Zeiten, in denen ein, zwei Parteien den Ton angeben, sie sind wohl vorbei.

Wie aus einer schwachen Position heraus regiert werden kann, das hat 2010 Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen gezeigt. Als sie sich zwei Jahre später zur Wiederwahl stellte, ging das rot-grüne Bündnis gestärkt daraus hervor. In Skandinavien gehören Minderheitsregierungen zum politischen Alltag. Das Rezept dort: wenig Ideologie, viel Pragmatismus und so lange reden, bis eine Lösung gefunden ist.

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Quelle:
SZ vom 24.08.2019
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