Minarett-Verbot:Wenn der Staat das Volk nicht mehr versteht

Anders als erwartet stimmen die Schweizer für ein Minarett-Verbot. Es gibt eine riesige Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung.

Hans-Jürgen Jakobs

Natürlich ist das überraschende Minarett-Votum der Schweizer nicht nur eine Niederlage für Vielfalt und Toleranz - sondern auch für die Meinungsforscher und die Medien. Einigermaßen hilflos musste der Wissenschaftler Claude Longchamp am Sonntagabend im Studio des Schweizer Fernsehens erklären, warum er bei dem Thema so falsch lag.

Minarett-Verbot: Genfer Moschee im Spiegel: Die Elite des Landes ist durch das Abstimmungsergebnis blamiert.

Genfer Moschee im Spiegel: Die Elite des Landes ist durch das Abstimmungsergebnis blamiert.

(Foto: Foto: dpa)

Noch vor zwei Wochen hatte der Umfrage-Star erklärt, nur 37 Prozent der Eidgenossen würden für die Initiative zur Abschaffung der Minarette votieren, 53 Prozent aber dagegen. Tatsächlich aber stimmten schließlich 57,5 Prozent für den Stopp des Minarett-Baus; das Thema hatte insgesamt mehr als die Hälfte der Bürger zur Abstimmung gebracht.

Damit war die Elite des Landes blamiert: Die Regierung, die sich um das Image des Landes und die internationalen Beziehungen sorgt. Die Top-Journalisten, die das Vorpreschen der konservativen und rechtspopulistischen Kräfte rund um den Islam eher als anrüchig und dümmlich darstellten. Die Demoskopen, die ihren eigenen Zahlen trauten wie dem täglichen Straßenverkehrsbericht.

Nun aber müssen die Volks-Experten zerknirscht einräumen, dass sie nicht wirklich wissen, was im Volk vorgeht. Es gibt offenbar eine riesige Kluft zwischen der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Meinung, zwischen dem politisch für vernünftig Gehaltenen und der wirklichen Meinung der Leute. Der Staat tickt anders, als jene, die den Staat ausmachen.

"Die Leute trauen sich nicht, ihre wahre Meinung zu sagen, wenn sie das Gefühl haben, sie sei unkorrekt und werde vom Befrager abgelehnt", erklärt der Zürcher Politikwissenschaftler Michael Hermann die Abweichungen zwischen Umfragen und Votum.

Dies sei ein Beleg für das "Phänomen der sozialen Erwünschtheit". Man weiß es eigentlich aus jedem Wahlkampf: Bestimmte politische Outsider werden von Demoskopen regelmäßig als zu schwach dargestellt. Im deutschen Bundestagswahlkampf 2009 zum Beispiel sahen sie die vielfach öffentlich geschmähten Linken als zu schwach an.

Die Rache von unten

Auch TV-Star Longchamp spricht nun davon, dass die Schweizer gegenüber den Interviewern nicht die Wahrheit gesagt hätten. Anders als üblich hätte sich ein nennenswerter Teil der Unentschiedenen auf die Seite der Ja-Sager geschlagen. Also auf die Seite der Frondeure gegen die Meinung des Establishments.

Der Politologe Hermann sieht das Votum als Rache von unten: "Die Elite hat kommuniziert: Wer diese Initiative bejaht, ist ein wenig doof und intolerant", zitiert ihn der Tages-Anzeiger. Zwar seien in den Zeitungen viele Pro- und Contra-Stücke erschienen, doch unterschwellig habe es die Tendenz gegeben, den Vorstoß besser abzulehnen.

Anders sah es offenbar bei den elektronischen Medien aus. Onlinemedien berichteten zum Beispiel gerne über das Auftauchen von "Hasspredigern" in der Schweiz. Kritische Artikel über Islamisierung erreichten hohe Klickzahlen, und die Zuschriften der User gaben in der Mehrheit der Anti-Minarett-Initiative Recht. Hier fühlt sich der "kleine Mann" offenbar von den politisch Korrekten bevormundet.

Als jetzt der Politikchef des Blick die Fehler der Nein-Koalition analysierte und die Initiative behutsam kritisierte, musste er sich beschimpfen lassen. "Schon wieder reden sie um heißen Brei herum ... Schämen Sie sich", schrieb M. K. aus Basel. "Sie irren sich, indem Sie die Wichtigkeit des Turms unterschätzen", merkte Martin Schneider aus Bern an. "Der Blick als Medium redet schon längst nach dem Wind", erklärt Reinhard Hertig aus Gibswil, "das Minarettverbot löst nicht das Islam-Prolem, es setzte aber ein wichtiges Zeichen."

Im Fernsehen wiederum hätten die Hauptnachrichten während der Hochphase zur Minarett-Abstimmung eher im Zusammenhang mit Terror und Konflikten berichtet, analysiert das Zürcher Forschungsinstitut Media Tenor. "Die stereotype Nachrichtenauswahl trug wenig dazu bei, um sich über den Alltag der 400.000 Muslime in der Schweiz ein eigenes Urteil bilden zu können", erklärt der Institutsgründer Roland Schatz. Imame selbst seien im TV nicht zu Wort gekommen - deshalb überrasche ihn das Abstimmungsergebnis nicht.

Offenbar hat sich in den Wochen vor der Abstimmung im Schweizer Volk - unbemerkt von den Meinungsspezialisten - Angst und Skepsis breitgemacht. Auf einmal ging es weniger um Minarette, sondern um die Einführung von Elementen des Scharia-Rechts im Land, um Genitalverstümmelung und Unterdrückung der Frau und um Zwangsehen bei Personen mit gesetzlichem Wohnsitz in der Schweiz. Es schien eine Wahl zu sein zwischen Freiheit und Religionsterror. Die Minarette wurden so zum Symbol eines vorgeblichen Kulturkampfs, eines clash of cultures - obwohl es im ganzen Land nur vier Minarette gibt und zwei neue gebaut werden sollten. Und obwohl die 400.000 Muslime im Land gut integriert sind, noch.

Auch die Kirchen werden geschmäht

"Freiheitsrechte gestärkt", jubelt die "Eidgenössische Volksinitiative für ein Bauverbot von Minaretten" auf ihrer Homepage. Das "Egerkinger Komitee", das die Initiative lancierte, nehme "vom Ja des Schweizer Souveräns zum Minarett-Verbot mit Genugtuung Kenntnis".

Und: "Es wird in der Schweiz auch keinen Muezzin-Ruf geben." Schon wird die Entlassung von Justizfunktionären gefordert, die sich der Umsetzung des Votums widersetzen - und Professoren beschimpft, die beim Europäischen Gerichtshof gegen das Minarett-Verbot klagen wollen.

Auch die Kirchen - ein weiterer Teil der Elite - werden von der Initiative geschmäht. Die Kirchenfunktionäre hätten eine "alarmierende Rolle" gespielt, ihr "jahrelang mangelnder Einsatz zugunsten verfolgter Christen gerade auch in muslimischen Ländern" kontrastiere "in bedenklichem Ausmaß zu ihrer eilfertigen Parteinahme gegen das Minarett-Verbot".

Hier wird in revanchistischem Stil gegen Andersdenkende ausgeteilt. Diffuse Ängste vor Überfremdung machten sich im Volk breit, geschürt von der Initiative und der rechtspopulistischen Partei SVP. Das früher wirksame Argument, die Schweiz brauche für wirtschaftliches Wachstum Arbeitskräfte aus anderen Ländern, zog nicht mehr. Während in den Städten die Nein-Wähler noch verhältnismäßig gut abschnitten, hatte die Initiative in ländlichen Regionen wie Appenzell freie Fahrt.

Es liege nun im Interesse von Regierung und Parteien, "den Motiven nachzugehen und nicht gerade mechanisch von 'Ängsten' zu reden", empfiehlt die Neue Zürcher Zeitung.

Konsterniert zeigt sich der Schweizer Theologe Hans Küng, der in Deutschland lebt. Die Initiative verstoße gegen die Religionsfreiheit und die "in der Schweiz hoch angesehene Toleranz". Er selbst verstehe zwar "gewisse Bedenken gegen den Islam" - Ursache dafür seien aber oft Unkenntnis und allzu große Selbstbezogenheit. "Man meint, auf einer Insel zu leben", sagt Küng, "so trifft man falsche Urteile." Sein Fazit: "Das wird die Schweiz noch teuer zu stehen kommen."

Minarette jedenfalls werden erst mal nicht mehr gebaut, und die "Elite" wundert sich.

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