Milliarden für Athen:Der Euro-Nationalismus

Kein Problem europäischer Politik hat die Deutschen jemals so bewegt, wie die Rettung des griechischen Staatshaushalts. Doch wenn dieser Euro-Nationalismus, der sich gerade enthemmt austobt, domestiziert und politisiert wird, kann er zu einer starken Triebkraft für Europa werden.

Gustav Seibt

Als der Euro eingeführt wurde, fragte man die Bürger in Deutschland, denen der Philosoph Jürgen Habermas noch ein Jahrzehnt zuvor "D-Mark-Nationalismus" vorgeworfen hatte, nicht nach ihrer Meinung. Dabei hatte dieser Währungspatriotismus bei der zwangsläufig überstürzten Integration der beiden deutschen Staaten nach 1990 eine erstaunliche Wirkungskraft bewiesen: Das Bewusstsein wirtschaftlicher Stärke, das sich in ihm ausprägte, war die Grundlage dafür, dass diese hochriskante Operation mit unerhörter Gelassenheit in der Gesellschaft akzeptiert wurde.

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Der Euro: Durch Leichtfertigkeiten wie denen Griechenlands wird eine starke Währung gefährdet.

(Foto: Foto: dpa)

Jetzt, zwanzig Jahre später, zeigt sich, dass kein aktuelles Problem europäischer Politik die Bürger in Deutschland jemals so bewegt hat wie die Rettung des griechischen Staatshaushalts. Und plötzlich kommt er, der Vorschein einer europäischen Öffentlichkeit. Details des griechischen Rentensystems interessieren die Deutschen brennend. Die Tatsachen über den systematischen Statistik- und Subventionsbetrug, den Athen betrieben und Brüssel geduldet hat, gewinnen demokratische Brisanz.

Nun kann das durchaus unbehagliche gesellschaftliche Interesse an diesen Fragen im politischen System auch nicht mehr übergangen werden. Es sind ja nicht vertragliche Sanktionen, auf die europäische Politiker wie Angela Merkel pochen können. Sie brauchen die denkbar härtesten Rechtfertigungen und Garantien gegenüber ihren steuerzahlenden Wählern. Das aber gehört, ebenso wie das Budget-Recht des Parlaments, zum Kernbestand der Demokratie. Die Bürger haben ein Recht darauf, zu fragen, was mit ihrem Geld geschieht.

Denn sie rühren im Kern an die ungeschriebenen Abmachungen, welche die Legitimität der Demokratie in Deutschland begründeten: nie wieder Krieg, nie wieder Massenarbeitslosigkeit, nie wieder Inflation und staatlich verursachter Vermögensverlust. In diesen drei Kernversprechen sind die historischen Erfahrungen von drei Generationen der deutschen Gesellschaft seit der Niederlage im Ersten Weltkrieg niedergelegt.

Alle drei Versprechen wurden spätestens in den neunziger Jahren durch die Globalisierung und Internationalisierung von Wirtschaft und Politik stark aufgeweicht: Ein hohes Niveau von Arbeitslosigkeit teilt Deutschland mit vielen westlichen Nationen, und dass sich das jetzt trotz Wirtschaftskrise leicht zu bessern scheint, ist ein magerer, durch die Hartz-IV-Gesetze hart erkaufter Erfolg von Selbstdisziplinierung. Dass die Bundeswehr sich seit 1998 wieder direkt an internationalen Konflikten beteiligt, hat die deutsche Öffentlichkeit außerhalb von Presse und politischem System bis heute nicht akzeptiert.

Das dritte Gebot, die Inflationsvermeidung, tief eingesenkt ins historische Bewusstsein durch die Währungsbrüche von 1923 und 1948, und noch einmal erhärtet durch die Erfahrung der Wertlosigkeit der Mark der DDR bei ihrem Untergang, schien nach den Stagflationsjahren (mit ihrer Verbindung von Stagnation und schleichender Inflation um das Jahr 1975 herum) gesichert. Den Deutschen der Nachkriegszeit blieben bisher dramatische Verluste bei ihren Sparvermögen und Renten durch Währungsverfall erspart.

Dies darf kein deutscher Politiker für Europa ohne schärfste Garantien aufs Spiel setzen, wenn der ohnehin bröckelnde Konsens für die europäische Integration nicht weiter erodieren soll. Dass diese Währung inzwischen Euro und nicht mehr D-Mark heißt, ändert an diesem Imperativ gar nichts. Das sollte bedenken, wer wie Jürgen Habermas am Wochenende in der Londoner Financial Times der Kanzlerin mangelnde nationale Risikobereitschaft zugunsten von Europa vorwirft. Denn bald könnte der europäische Prozess insgesamt in Gefahr geraten, wenn die Bürger seines stärksten Mitgliedslandes durch Leichtfertigkeiten wie denen Griechenlands den wichtigsten Beitrag zerstört sähen, den sie für Europa zu leisten hatten: ihre starke Währung.

Ganz ohne Demogagie scheint es nicht zu gehen

Europa sei immer noch ein Elitenprojekt, beklagt Habermas auch jetzt wieder, es fehle die europäische Öffentlichkeit und die dem integrierten Markt entsprechende politisch-sozialstaatliche Struktur. Das sind zutreffende Diagnosen, die aber vor allem das Dilemma einer politischen Großeinheit beschreiben, die nicht mehr nach dem Muster bürgerlicher Nationen erbaut werden kann. Weder ein gemeinsames Sprach- und Kulturbewusstsein noch die Fiktion historischer Schicksalsgemeinschaft lassen sich so leicht von der nationalen auf die europäische Ebene projizieren. Das aber bedeutet: Europa als "Projekt" muss sich, noch mehr als traditionell nationalstaatlich verfasste Demokratien, auf seinen materiellen Erfolg verlassen können.

Wenn der Euro-Nationalismus, der sich im Boulevard und auf den Leserkommentaren der Zeitungsseiten im Internet derzeit enthemmt und wild austobt, domestiziert und politisiert wird, kann er zu einer starken Triebkraft für Europa werden. Mit dem "Elitenprojekt" Europa ist es so oder so vorbei: Europa hat jetzt vielleicht noch die Chance, ein Projekt der Massen zu werden. Aber wie es so ist, wenn die Massen Einfluss auf die Politik gewinnen: Ganz ohne Demogagie scheint es nicht zu gehen.

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