Süddeutsche Zeitung

Militärputsch in der Türkei:"Kaum jemand ist heute noch bereit, zu putschen"

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Türkei-Experte Udo Steinbach hat drei der vier Militärputsche in der Geschichte des Landes begleitet und erklärt, warum dieses Mal alles anders ist.

Interview von Julia Ley

SZ: Herr Steinbach, die Türkei hat in der Geschichte ihrer Republik bereits vier Militärputsche erlebt. Sie selbst haben als Wissenschaftler drei davon begleitet, den ersten in den siebziger Jahren als Leiter des Nahost-Referats der Stiftung Wissenschaft und Politik. Was ist an diesem Putsch anders als an den vorigen?

Udo Steinbach: Dieser Putschversuch ist nicht von der Militärführung ausgegangen, sondern ganz offensichtlich von niederrangigen Offizieren. Die haben sogar den Generalstabschef als Geisel genommen. Es ist also ein Putsch von unten in der Armee - und das unterscheidet ihn von allen vorherigen, vor allem von dem von 1980. Damals hat die Armee geschlossen die Macht übernommen - nach vorheriger Absprache mit den Nato-Verbündeten. Man war froh, dass die Militärs eingreifen und das Land vor dem Verfall retten.

Das scheint heute unvorstellbar. US-Präsident Obama und die Bundeskanzlerin haben sich sehr deutlich gegen den Putschversuch ausgesprochen. Aber auch die Opposition im Land selbst.

Auch das war früher anders. Die Armee erfuhr bis in die neunziger Jahre hinein großen Zuspruch. Sie war die einzige Institution, der die Bürger vertrauten. Die Politik hingegen galt als korrupt und selbstsüchtig. Heute steht Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze des Staates. Er hat ein sehr hohes Maß an Zuspruch, weil er unglaublich viel Charisma hat. Und weil es ihm gelungen ist, sich als Stimme der Nation auszugeben.

Also haben auch Sie nicht mit einem Putsch gerechnet?

Nein, das hat niemand. Um das zu verstehen, muss man die vergangenen zehn Jahre Revue passieren lassen. Im Jahr 2004, zu Beginn der Ära Erdoğan, regte sich in der Armee starker Widerstand gegen ihn. 2007 steuerte der schwelende Konflikt dann auf einen Höhepunkt zu: Damals sollte Abdullah Gül Präsident werden - ein Mann, dessen Frau Kopftuch trug. In der Türkei war das unerhört. Und es hat das Militär auf den Plan gerufen, das ein Memorandum gegen Gül veröffentlichte. Aber Erdoğan hat sich durchgesetzt.

Wie ist ihm das gelungen?

Zum einen hat er immer wieder Volksbefragungen durchgeführt, er hatte damals eine ganz starke demokratische Legitimation. Am Ende hat er das Volk entscheiden lassen, ob es einen muslimischen Präsidenten will. Und das Volk hat Ja gesagt. Erdoğan hat also den Widerstand der Kemalisten mit demokratischen Strategien überwunden. Nur: Diesen Weg hat er jetzt verlassen.

Wobei es ja auch langwierige und zum Teil scharf kritisierte Prozesse gegen Militärs gab ...

Sie meinen die Ergenekon-Prozesse ab 2007/2008. Dadurch wurde bekannt, dass es unter den Offizieren der Armee wiederholt Putschpläne gegeben hatte - diesen sogenannten "tiefen Staat" haben die Prozesse aufgedeckt. Das war eine faszinierende Konfrontation - am Ende landete sogar ein Generalstabschef im Gefängnis. Und die Militärführung musste plötzlich mit einem neuen Ton leben: Ihr Budget wurde gekürzt, Beförderungen mussten politisch genehmigt werden. Es war das Ende der politischen Einflussnahme des Militärs.

Bis jetzt. Anscheinend haben genug regierungskritische Elemente überlebt, um diesen Putsch auf die Beine zu stellen.

Nun, das Militär ist nach wie vor kritisch, viele sind Kemalisten - aber kaum jemand ist heute noch bereit, zu putschen. Schon während der Ergenekon-Prozesse zeigte sich, dass führende Militärs immer wieder die Putschpläne niederer Offiziere verhindert haben. Doch es gibt noch einen anderen Grund: In den vergangenen 24 Monaten sind viele Militärs rehabilitiert worden, weil Erdoğan sie mit einem Mal wieder brauchte. Als die Kurdenfrage eskalierte, wurde der Ergenekon-Prozess plötzlich abgeblasen. Viele, die zu langen Haftstrafen verurteilt waren, sind auf einmal zurückgekehrt.

Also ist Erdoğan ausgerechnet sein Kampf gegen die Kurden zum Verhängnis geworden? Man sollte meinen, dass er gerade da die Armee auf seiner Seite hätte.

Ja, und das ist der wirklich interessante Punkt: Erdoğan hat den Konflikt mit den Kurden eskalieren lassen, um innenpolitisch seine Macht zu sichern. Wenn die PKK wieder zu den Waffen greift, dann gibt es in der Türkei eigentlich nur noch Unterstützung für den, der sie bekämpft. Man muss sich also fragen, an welchem Punkt sich die Geister so sehr geschieden haben, dass die Putschisten trotzdem gegen ihn vorgehen wollten. Denn sie haben das ja sozusagen "against all odds" getan - ein solcher Versuch, ohne Unterstützung der Führung, das konnte eigentlich nur scheitern. Hinzu kommt, dass man der türkischen Öffentlichkeit heute keinen Putsch mehr verkaufen kann. Sogar die kemalistische Oppositionspartei steht diesmal hinter Erdoğan.

Auch das ist überraschend. Immerhin ist Erdoğan ja nicht unbedingt ein lupenreiner Demokrat. Wären nicht viele froh, ihn loszuwerden?

Vielleicht, aber nicht mit allen Mitteln. Und das türkische Militär hat wirklich zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte gezeigt, dass es das Land nach einer Intervention auf einen guten Weg nach vorne bringen kann. Man sollte in keinem Fall einem Putsch das Wort reden. Ich persönlich hoffe noch immer, dass die türkische Öffentlichkeit andere Wege findet, um die Dinge zu berichtigen.

Gibt es denn überhaupt noch jemanden in der Türkei, der das kann?

Es ist schwierig. Im Laufe des Samstags wurden 3000 Richter abgesetzt. Aber man kann nicht ausschließen, dass es irgendwann einen politischen Putsch gibt. Aus den Reihen der eigenen Partei. Da gibt es ja Leute, die kaltgestellt wurden - Abdullah Gül, Ahmet Davutoğlu - und die seltsam still sind. Man kann nur hoffen, dass sie irgendwann gegen Erdoğan Position beziehen. Und es gibt eine Opposition wie die kurdisch-demokratische HDP. Das türkische Parlament vom Juni 2015 war das demokratischste Parlament, das die Türkei je hatte.

Mag sein. Nur hat es sich dann selbst entmachtet, indem es für die Aufhebung der Immunität eines Viertels seiner Abgeordneten gestimmt hat. Vielen wird jetzt der Prozess wegen Terrorunterstützung gemacht.

Richtig, aber noch ist nicht gesagt, dass Erdoğan aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervorgehen wird. Er mag sich jetzt als starker Mann gerieren, aber er ist beschädigt. Und in der Partei könnten sich die Leute bestätigt fühlen, die seit Langem nach einer Alternative zu Erdoğan suchen. Es könnte also sein, dass dieser Putsch eine Katalysator-Wirkung entfaltet. Ich hoffe darauf, dass sich eines Tages Leute wie Davutoğlu und Gül aufrichten mit den Worten: "Zu viel ist zu viel."

Oder sie lassen es bleiben, weil das Blutvergießen der letzten Tage und die zu befürchtende Antwort Erdoğans ihnen zu viel Angst macht.

Die Antwort der Regierung wird brutal, das ist keine Frage. Aber die Türkei ist und bleibt ein wichtiges Land. Und es gibt eben auch 50 Prozent der Wähler, die nicht für Erdoğan gestimmt haben - mit genau denen müssen wir ins Gespräch kommen. Die Politik in der Türkei wird uns in den nächsten Monaten schweißtreibende Momente bescheren, aber wir müssen alles tun, damit sich die Idee des demokratischen Wandels durchsetzt.

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