Militärputsch in der Türkei:Die Putschnacht hat die Türkei tief gespalten

Militärputsch in der Türkei: In Ankara stellen sich im Juli 2016 Zivilisten den Panzern des Militärs entgegen. Noch in der Nacht geben sich die putschenden Soldaten geschlagen.

In Ankara stellen sich im Juli 2016 Zivilisten den Panzern des Militärs entgegen. Noch in der Nacht geben sich die putschenden Soldaten geschlagen.

(Foto: AP)

Vor einem Jahr wehrten die Türken gemeinsam den Staatsstreich ab - doch von Einigkeit ist heute nichts zu sehen. Jede Seite hat ihre Helden und Märtyrer aufzubieten.

Von Mike Szymanski

Mehmet Önay wird an diesem Samstag nicht dabei sein können, wenn die Bürger zu Fuß die spektakuläre Hängebrücke erobern, die sich in Istanbul so imposant über den Bosporus spreizt. In der Putschnacht vor einem Jahr hatten sich Zivilisten und Soldaten hier gegenübergestanden und um die Macht gerungen. Am Wochenende soll dieser dramatischen Stunden gedacht werden. Aber Önay wird nicht kommen. Ihm fällt jeder Schritt schwer. In seinem Körper stecken noch zwei Dutzend Schrauben und winzige Metallschienen, die die Knochen zusammenhalten. Und eine Kugel.

Önay ist 55 Jahre alt. 30 Jahre lang war er Polizist. Es sagt, er habe immer alles gegeben, um sein Land sicherer zu machen. In der Nacht von 15. auf den 16. Juli 2016 hat er seine Türkei auf der Brücke verteidigt. Gegen Landsleute, gegen türkische Soldaten. Sie hatten den Aufstand gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen islamisch-konservative Regierung gewagt. Önay wäre in dieser Nacht fast gestorben. Zwei Kugeln trafen ihn in einem Feuergefecht mit Soldaten. Für ihn ist das eine Nebensächlichkeit: "Was wären wir ohne unser Land, wenn die Putschisten es uns genommen hätten?"

Noch in der Nacht hatte Erdoğan von einem "Geschenk Gottes" gesprochen

Die Türkei - das war vor dem Putschversuch auch das Land von Nuriye Gülmen. Die 35-Jährige ist Literaturdozentin. Sie engagiert sich politisch, sie ist eine Linke. Auch sie ist bereit, ihr Leben für die Türkei zu geben. Am 11. März hat sie aufgehört zu essen. Sie hungert - für Gerechtigkeit.

Sie trat in den Hungerstreik, weil der Staat sie seit dem Putschversuch als mutmaßliche Terroristin betrachtet. Sie hat ihren Job verloren, so wie mehr als 150 000 andere Männer und Frauen auch. Allein am Freitag sollen mehr als 7300 Soldaten und Staatsbedienstete entlassen worden sein.

Es gibt Unterstützer, die sie als "Heldin von Ankara" bezeichnen. So wie Önay von der Brücke, der Polizist mit der Kugel im Bauch, auch als Held gilt. Die zwei Schicksale zeigen, wie tief sich das Land gespalten hat: Önay sagt, er sei schon immer Patriot gewesen. Seit der Putschnacht fühle er sich noch patriotischer, er sei bereit, mit Recep Tayyip Erdoğan an der "neuen Türkei" zu arbeiten, die der Staatspräsident immer versprochen hat. Dozentin Nuriye Gülmen wünscht sich die alte Türkei zurück. Ein Land, das nicht mit Dekreten des Präsidenten im Ausnahmezustand regiert wurde. Ein Land, das sicher nicht perfekt war, in dem aber eine Regierungskritikerin wie sie noch gewisse Freiräume hatte. Zumindest jedoch Arbeit.

Noch in der Nacht des Aufstands hatte Erdoğan von dem Putschversuch als einem "Geschenk Gottes" gesprochen. Was er damit meinte, wurde in den Wochen, die folgten, immer klarer. Die Regierung machte schon in der Nacht die Bewegung des islamisches Predigers Fethullah Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich. Dessen Netzwerk, das weit in den Staat hineinreichte, hatte Erdoğan einst an die Macht verholfen. Nun soll der frühere Weggefährte es gegen Erdoğan eingesetzt haben.

Aber die Regierung machte jetzt eben nicht nur Jagd auf Gülenisten. Auch regierungskritische Journalisten, Akademiker und Oppositionspolitiker wurden verhaftet. Darunter Leute, die seit Jahren vor Gülens Bewegung gewarnt hatten. Mehr als 50 000 Menschen sitzen im Gefängnis. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der säkularen CHP, sagte der Süddeutschen Zeitung kürzlich, nicht nur die Gülen-Gemeinde werde bestraft, "sondern alle oppositionellen Gruppen" im Land.

2989 Türken

haben im ersten Halbjahr dieses Jahres erstmals einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Dies geht aus Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hervor. Seit dem Putschversuch beantragten auch 209 Menschen mit Diplomatenpass und weitere 205 Staatsbedienstete Asyl, darunter viele, die der Nähe zur Gülen-Bewegung verdächtigt werden.

Wie es Gülen-Anhängern geht, die in Deutschland leben, lesen Sie unter sz.de/guelen.

Aber es geht nicht nur ums Bestrafen, es geht auch um den ganz großen Umbau. Im April hat Erdoğan per Volksabstimmung die umstrittene Präsidialverfassung durchgesetzt. Die Reform legt die Macht weitgehend in seine Hände. Zehntausende Stellen im öffentlichen Dienst müssen neu besetzt werden - bei der Polizei, in der Justiz, im Militär, in den Schulen. Zum Zuge kommt, wer als loyal gilt. Lehrpläne werden geändert.

Für Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk soll weniger Unterrichtszeit bleiben. Der hatte sich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg im Türkischen Befreiungskrieg gegen die Besatzungsmächte gestellt. Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gründete er die moderne Türkei. Der Putschversuch gibt Erdoğan nun sein eigenes Helden-Narrativ: Im Jahr 2016 sind es der Präsident und das Volk, die das Land vor dem Zugriff dunkler Mächte retteten. "Der 15. Juli ist der zweite Befreiungskrieg der türkischen Nation", sagte er bald nach der Putschnacht.

Die Feiern zum Putsch-Gedenktag dauern nicht ohne Grund eine Woche, sie sind minutiös choreografiert: am 16. Juli um 2.32 Uhr wird Erdoğan im Parlament sprechen. Um diese Zeit vor einem Jahr jagten die Kampfjets über die Hauptstadt und beschossen die Große Nationalversammlung. Der Präsident würdigt schon seit Tagen die Opfer des Putsches, er sieht sie als "Märtyrer" für seine Sache.

Derart brutale Szenen spielten sich auf den Straßen ab

Ein Juliabend im Istanbuler Außenbezirk Halkalı. Polizist Önay hat einen Termin. Der Veteranen-Verein "15. Juli" trifft sich. Der Vorsitzende, Erol Bulut, ein frommer Geschäftsmann, hat sich den Vereinsnamen auf die Manschetten seines weißen Hemdes sticken lassen. Es gibt eine kurze Vorstellungsrunde, jeder sagt, wo er sich in der Putschnacht aufgehalten hat. Ein Dutzend Männer sitzen an einem langen Tisch, in der Mitte stehen Obstschalen. Die Veteranen hören sich an, als wären sie gerade aus dem Krieg zurückgekommen. Ein hagerer Bursche, um die 20, kommt zu spät. "Wieso warst du in der Nacht auf der Straße?", fragt einer. Er antwortet: "Ich wollte dem Land mein Leben schenken."

Wer die Putschnacht miterlebt hat, der würde gut verstehen, wenn dies hier eine Selbsthilfegruppe wäre. Derart brutale Szenen spielten sich auf den Straßen ab. Aber über Albträume oder Schwäche will heute keiner reden. Sicher auch deshalb, weil jemand von der Presse zu Besuch ist. Der Vorsitzende Bulut sagt sogar: "Wir danken Gott, dass dieser Putsch stattgefunden hat. Er hat einen neuen Geist geweckt." In dieser Runde hat Präsident Erdoğan nur Unterstützer. Und die Massenverhaftungen, der Generalverdacht, das Klima der Angst? "Wir glauben an unsere Justiz", sagt der Vorsitzende. Man dürfe nicht vergessen, die Feinde hätten sich überall eingenistet. Einer aus der Gruppe nennt seinen Cousin einen Verräter.

Militärputsch in der Türkei: Menschen kauern während des Putschversuches hinter Leitplanken. In der Nacht gab es Tote und Verletzte.

Menschen kauern während des Putschversuches hinter Leitplanken. In der Nacht gab es Tote und Verletzte.

(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Der Staat kümmert sich um die Veteranen. "Er lässt uns nicht alleine", sagt Erdal Aras. Der 29-Jährige hat in einem Restaurant gearbeitet. Dann folgte er Erdoğans Aufruf, auf die Straße zu gehen und sich gegen die Putschisten zu stellen. Er wurde angeschossen. Die Regierung hat ihm einen Beamtenjob verschafft - so ist das per Dekret für Verletzte und Hinterbliebene geregelt worden.

Die protestierende Lehrerin habe schon 25 Kilo Gewicht verloren, sagt ihr Anwalt

Per Notstandsdekret hat die Regierung auch die Entlassungswellen angeordnet, mit denen die Literaturdozentin Gülmen ihren Job verlor. Erst wurde sie von ihrer Hochschule suspendiert, dann gekündigt. Dabei habe sie mit der Gülen-Bewegung nichts zu tun, sagt sie. Aus Ärger, wie der Staat mit ihr umgeht, startete sie im November ihren Protest. Jeden Tag zog sie vors Menschenrechtsdenkmal in Ankara. Das zeigt eine Frau, die in der universellen Erklärung der Menschenrechte liest. Davor baute sie sich mit ihrem Mitstreiter, dem ebenfalls entlassenen Lehrer Semih Özakça, auf. Sie hatten ein Schild dabei: "Ich will meine Arbeit zurück".

Aber natürlich ging es damals schon um viel mehr als nur ihre Jobs. Die Polizei kam und führte sie ab. Aber am nächsten Tag stand Gülmen wieder vor dem Denkmal. So ging das über Wochen, über Monate. Anfangs konnte die Regierung mit den Namen der beiden nichts anfangen. Es dauerte, bis sie verstand, was in der Fußgängerzone von Ankara vor sich ging. Heute muss der Anwalt Selçuk Kozağaçlı für die beiden sprechen. Die Akademiker sitzen seit Mai in Haft. Als die größte Oppositionspartei CHP ihr Schicksal auf die politische Tagesordnung setzte und bald auch außerhalb Ankaras über die beiden gesprochen wurde, dauerte es nicht lange, bis sie weggesperrt wurden.

Die Putschnacht hat den Keil noch tiefer in die Gesellschaft getrieben. Es hätte nicht so kommen müssen. Das Trauma war so stark, dass Opposition und Regierung zur Annäherung bereit zu sein schienen. Im Istanbuler Hafenquartier Yenikapı trafen sich bald nach der Putschnacht Hunderttausende, um auf Einladung der Regierung gemeinsam gegen den Umsturzversuch zu demonstrieren. Das hätte der Moment für den Neuanfang sein können. Inzwischen geht jeder wieder seinen eignen Weg. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu hat gerade erst einen Marsch für "Gerechtigkeit" von Ankara nach Istanbul angeführt, weil er meint, inzwischen in einer Diktatur zu leben. Erdoğan will am Samstag einen "Marsch der nationalen Einheit" anführen. Es gibt nur noch ein Wir-gegen-die-anderen. Mal dröhnend vorgetragen, mal verzweifelt still und leise.

Nuriye Gülmen hat sich heruntergehungert. Sie habe schon 25 Kilo Gewicht verloren, sagt ihr Anwalt. Sie habe Krämpfe und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie könne sich nicht mehr allein auf den Beinen halten. Wenn er die Frau im Gefängnis besucht, dann sitze sie im Rollstuhl. Die Verhandlung gegen sie soll am 14. September beginnen. Er weiß nicht, ob sie überhaupt bis zum Prozess durchhält.

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