Die Bewohner Kiews sind am Dienstagmorgen von Luftangriffen und Bombardements geweckt worden. Reporter der BBC in der Stadt berichten von einer Reihe Explosionen, die im ganzen Stadtzentrum zu hören gewesen seien. Wieder wurden vor allem Wohnhäuser getroffen. Nachrichtenagenturen teilten Bilder von den Lösch- und Rettungsarbeiten. Die Stadtverwaltung von Kiew und die Verkehrsbetriebe teilten außerdem mit, eine Metro-Station im Stadtzentrum sei bei den Angriffen beschädigt worden. Die U-Bahnlinie werde weiter verkehren, die Station sei aber geschlossen worden. Die U-Bahn in Kiew war vor allem zu Beginn des Krieges ein wichtiger Zufluchtsort der Bevölkerung vor russischen Luftangriffen. Wie in vielen anderen osteuropäischen Städten sind die U-Bahnhöfe sehr tief gelegen und waren schon beim Bau auch als Schutzräume konzipiert worden.
Der erwartete große Angriff auf die ukrainische Hauptstadt fand auch am Montag nicht statt. Nach wie vor sollen die russischen Streitkräfte im Osten Kiews vor allem mit Aufklärung beschäftigt sein sowie mit dem Aufbau von Kommunikationskanälen und funktionierenden Versorgungslinien. Im Westen der Stadt sollen russische Truppen daran gehindert worden sein, den Irpin-Fluss in Richtung Stadtzentrum zu überqueren. Ukrainische Streitkräfte hatten schon vor Tagen die Brücken über den Fluss zerstört, um den russischen Vormarsch zu verlangsamen. Von Dienstagabend an bis Donnerstagmorgen soll in Kiew eine 35-stündige Ausgangssperre gelten. Nur das Aufsuchen von Luftschutzräumen sei erlaubt, teilte Bürgermeister Vitali Klitschko mit. Immer wieder waren bei den Bombardements der letzten Tage auch Zivilisten getötet und verletzt worden. Es ist unklar, ob die Ausgangssperre verhängt wird, weil am Mittwoch mit einem großen Angriff auf Kiew gerechnet wird.
Die Kriegsfronten haben sich kaum verändert, aber die Kämpfe scheinen im ganzen Land an Intensität zuzunehmen. In der Region Riwne im Westen des Landes sollen bei einem Luftangriff auf einen Fernsehturm 19 Menschen getötet worden sein. Auch in anderen Regionen sind Fernsehtürme beschossen worden. Teil der russischen Kriegsstrategie scheint es zu sein, die mediale Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Nach dem Angriff auf einen Militärstützpunkt in der Nähe der polnischen Grenze ist das ein weiterer schwerer Luftangriff im Westen des Landes. Benachbarte Länder wie Polen fürchten seit Kriegsbeginn, dass der Konflikt auf andere Nationalgebiete übergreifen könnte und möglicherweise den Nato-Bündnisfall auslöst. Von polnischer Seite hieß es bereits am Montag, diese Angriffe im Westen der Ukraine seien auch als Provokationen der Nato zu verstehen.
Die Hafenstadt Mariupol wird weiter bombardiert
Nach Angaben der belarussischen Führung ist das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl wieder ans Stromnetz angeschlossen. Die Stromversorgung des Kraftwerks sei wiederhergestellt, teilte das Wirtschaftsministerium der autoritär regierten Ex-Sowjetrepublik in seinem Telegram-Kanal mit. Katastrophal ist nach wie vor die Lage in der eingekesselten Stadt Mariupol im Osten des Landes. Ein seit Tagen geplanter Flucht- und Versorgungskorridor aus der Stadt ist wieder nicht zustande gekommen, obwohl einzelnen Einwohnern mit privaten Pkws die Flucht gelungen sein soll. Ein bereitstehender Konvoi mit Hilfsgütern wartet seit drei Tagen auf einen sicheren Weg in das abgeschnittene Gebiet. Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente sind knapp, der Strom ist ausgefallen, und die Hafenstadt wird weiter von Russland bombardiert. Satellitenbilder und Drohnenaufnahmen zeigen Zerstörungen und Rauchschwaden über der Stadt. Bisher sollen bei dem Angriff auf Mariupol etwa 2400 Menschen ums Leben gekommen sein. Ukrainische Behörden rechnen mit 20 000 Toten, wenn sich die Lage nicht bald verbessere. Es sollen noch immer Hunderttausende Menschen in der Stadt eingeschlossen sein. 20 000 Zivilisten sei aber die Flucht gelungen. Nach ukrainischen Angaben wurde ein russischer Angriff auf das Stadtgebiet abgewehrt. In sozialen Netzwerken wurden Bilder zerstörter russischer Panzer geteilt. Verifizieren lassen sich diese Meldungen nicht.
In anderen Teilen des Landes konnte die russische Armee nach eigenen Angaben kleinere Erfolge erzielen. So teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit, die Region um die Stadt Cherson im Süden des Landes unter Kontrolle gebracht zu haben. Es wird befürchtet, dass sich die Kämpfe nun auf die Stadt Odessa ausweiten könnten. Auch in der Region um Luhansk soll die russische Armee kleinere Landgewinne verzeichnen können. Die Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine steht weiter unter schwerem Beschuss. Die ukrainischen Streitkräfte teilten mit, sie hätten südlich der Stadt mehrere russische Vorstöße aufgehalten. Verifizieren lassen sich auch diese Angaben nicht.
Es mehren sich Berichte, nach denen es um die Moral der russischen Truppen sehr schlecht stehen soll. So behauptet die ukrainische Seite, immer mehr russische Soldaten würden inzwischen den Einsatz verweigern. Auch diese Angaben lassen sich nicht verifizieren. Seit einigen Tagen ist aber schon bekannt, dass Russland versucht, Söldner aus Syrien in die Ukraine zu schicken. Bei Mariupol sollen bereits Tausende tschetschenische Kämpfer im Einsatz sein. Auch sollen die russischen Kräfte, angeblich auch mit belarussischen Streitkräften, an der Grenze zwischen der Ukraine und Belarus verstärkt worden sein.
Trotz der anhaltenden, teils schweren Kämpfe versuchte die ukrainische Seite auch am Dienstag wieder, Fluchtkorridore aus den Gefechtsgebieten offen zu halten. So schickte das Internationale Rote Kreuz 30 Busse in die Stadt Sumy. Mehr als 100 Busse mit Zivilisten konnten die belagerte Stadt verlassen, teilte das Rote Kreuz mit. Derzeit sollen knapp drei Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht sein, laut Unicef fast die Hälfte davon Kinder.