Süddeutsche Zeitung

Militärdiktatur:Lebenslange Haft für argentinische Todesengel

  • 30 000 Menschen starben oder verschwanden während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983.
  • Nun sprachen Richer in Buenos Aires Haftstrafen für 54 Angeklagte aus: 29 Mal lebenslänglich sowie 19 weitere Haftstrafen von acht bis zu 25 Jahren und sechs Freisprüche.
  • Fünf Jahre lang hat dieser Megaprozess gedauert, der Richterspruch wird in Argentinien als historisch eingestuft.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Vor dem Justizpalast "Comodoro Py" in Buenos Aires versammelten sich am Mittwochnachmittag Hunderte vor einer Großbildleinwand. Sie hatten Stopp-Schilder mitgebracht, auf denen ihre Forderung stand: "Bestrafung". In einem Arrangement aus roten Nelken war die Zahl 30 000 zu lesen. So viele Menschen sind nach heutigen Erkenntnissen während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ermordet worden oder spurlos verschwunden. An diesem Mittwoch, vier Jahrzehnte danach, erwarteten sich die Zuschauer vor der Leinwand einen wegweisenden Schritt zur Aufarbeitung dieser Verbrechen. Public Viewing bei einem Menschenrechtsprozess.

Das Publikum auf dem Gerichtsvorplatz wurde nicht enttäuscht. Die Richter verkündeten in einem der größten Verfahren in der Geschichte Argentiniens ein hartes Urteil: 54 Angeklagte, 29 Mal lebenslänglich, dazu 19 weitere Haftstrafen von acht bis zu 25 Jahren und sechs Freisprüche.

Auf der Leinwand war auch zu sehen, wie sich im Gerichtssaal beispiellose Szenen abspielten, selbst für argentinische Verhältnisse. Teilweise ging es zu wie im Fußballstadion. Auf dem Oberrang sangen Angehöre ehemaliger Offiziere aus voller Kehle die Nationalhymne und feuerten die Angeklagten mit Victory-Zeichen an. Ein Stockwerk tiefer, hinter eine Plexiglasscheibe, skandierten die Familien der Diktaturopfer "Mörder, Mörder!". Der vorsitzende Richter Daniel Obligado versuchte mehrmals vergeblich, die Anwesenden zur Ruhe zu bringen. Wegen des Lautstärkepegels war sein Urteilsspruch eher ein Urteilsschrei.

Nur wenige Menschen überlebten im Todeszentrum der Diktatur

Fünf Jahre lang hat dieser Megaprozess gedauert. Es war das dritte und bislang umfassendste Verfahren, das sich mit den Menschenrechtsverbrechen in der ehemaligen Mechanikschule der Marine (Esma) befasste, dem berüchtigten Folter- und Todeszentrum der Diktatur. Etwa 5000 Menschen wurden dort festgehalten, nur wenige überlebten.

Unter den Verurteilten vom Mittwoch befinden sich zwei der bekanntesten Schergen der Junta: der frühere Kapitänleutnant Alfredo Astiz, 67, genannt "der blonde Todesengel" sowie der ehemalige Esma-Geheimdienstchef Jorge Acosta, 76, "der Tiger". Beide waren bereits in früheren Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Auf der Anklagebank zeigten sie sich uneinsichtig. "Die Menschenrechtsorganisationen wollen Verfolgung und Rache, ich werde niemals um Vergebung bitten", sagte der Todesengel Astiz.

Als historisch eingestuft wird der Richterspruch vor allem wegen der lebenslangen Freiheitsstrafen gegen Mario Arru, Alejandro D'Agostino, Francisco Di Paola und Gonzalo Torres de Tolosa. Damit wurden erstmals in Argentinien auch Verantwortliche und Piloten der sogenannten Todesflüge verurteilt. Dabei waren Hunderte, wenn nicht Tausende angebliche Regimekritiker aus Flugzeugen ins Meer geworfen worden. Zu den Opfern gehörten zwei französischen Ordensschwestern sowie Mitbegründerinnen der Menschenrechtsorganisation "Mütter der Plaza de Mayo", die sich schon während der Diktatur für die Suche nach Vermissten eingesetzt hatten.

Die Todesflüge sind längst ein nationales Trauma und ein Symbol für die unfassbaren Gräueltaten der Militärjunta. In diesen Fällen war die Beweisführung vor Gericht besonders kompliziert. Niemand hat diese Flüge überlebt, es gibt keine Zeugen und kaum Spuren. Nur wenige Leichen wurden gefunden, sie waren gefesselt an der Küste Uruguays angespült worden.

Lebendig aus dem Flugzeug geworfen

Öffentlich bekannt wurden diese Hinrichtungsmethode Mitte der 1990er-Jahre durch die Beichte des ehemaligen Korvettenkapitäns Adolfo Scilingo. Er hatte dem Journalisten Horacio Verbitsky in stundenlangen Interviews perfideste Details berichtet. Demnach startete Ende der 1970er-Jahre regelmäßig mittwochs ein Flugzeug aus Buenos Aires mit zehn bis fünfzehn Esma-Gefangenen an Bord, die danach nie wieder gesehen wurden. Den Todeskandidaten sei erzählt worden, sie würden zur Erholung in den Süden des Landes verlegt. "Ihnen wurde brasilianische Musik vorgespielt, zu der sie dann Freudentänze aufführen sollten", berichtete Scilingo. Danach seien sie mit dem Schlafmittel Pentothal betäubt und auf Lastwagen zur Startbahn gekarrt worden, um sie schließlich aus 3000 Metern Höhe lebendig über dem Wasser abzuwerfen.

Die Angeklagten im jüngsten Esma-Prozess stritten diese Geschichte bis zum Schluss ab und hielten sich an ihr 40 Jahre altes Schweigegelübde. Auch Scilingo zog sein Geständnis später zurück, das half ihm aber wenig. 2005 wurde er in Spanien zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Mit dem Urteil von Buenos Aires erkennt nun zum ersten Mal auch die argentinische Justiz an, dass es die Todesflüge tatsächlich gab und dass sie systematisch durchgeführt wurden.

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SZ vom 01.12.2017/spes
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