Mildere Strafen, vorzeitige Entlassungen:Wie sich der Strafvollzug in den USA wandeln muss

Der Staat inhaftiert Kriminelle und entlässt Monster: Seit 30 Jahren steigt in den USA die Zahl der Häftlinge, die meisten Gefängnisse sind heillos überfüllt, die Haftbedingungen gelten als Folter. Jetzt denkt man um - aber nicht aus Gnade.

Jörg Häntzschel

Über 30 Jahre lang gab es für die US-Justiz nur eines: härtere und längere Strafen. Amerika hat das Vergeltungsprinzip bis in die Gegenwart mitgeschleppt. Und ein beherzter Pistolenschuss, der schon den Richtigen treffen wird, war seinen Bürgern seit jeher sympathischer als breite Überwachungs- und Disziplinierungsmethoden wie das deutsche Meldegesetz.

20 Years Since The Rodney King Verdict Sparked Infamous L.A. Riots

Innerhalb einer Generation hat sich in den USA der Anteil der Inhaftierten an der Gesamtbevölkerung verfünffacht. Das kann sich der Staat nicht mehr länger leisten.

(Foto: AFP)

So war immer extremere Härte der Justiz die naheliegende Reaktion, als das Land freier aber auch schwer erschüttert aus der Bürgerrechtsbewegung und der Vietnam-Ära hervorging. Spätestens mit den Drogenboom und der Verbrechenswelle in den Achtzigern wurde Law and Order als garantiert wirksames Wahlkampfargument entdeckt. Strafverfolgung ist in den USA ja keine abstrakte politische Frage. Anders als in Europa wird eine direkte Korrelation zwischen der Bestrafung von Verbrechern und dem Schutz der unbescholtenen Mehrheit behauptet: Der Politiker, der Kriminelle zu sanft behandelt, setzt die Gesellschaft tödlicher Gefahr aus.

Das Ergebnis ist bekannt: Innerhalb einer Generation hat sich der Anteil der Inhaftierten in der Gesamtbevölkerung verfünffacht: 1980 waren es 139, 2010 750 von 100.000 Amerikanern. Damit liegen die USA an der Weltspitze, vor Ruanda und Georgien. (In Deutschland sind 87 von 100.000 Menschen in Haft.) Obwohl die USA nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, sitzen 25 Prozent aller weltweit Inhaftierten in Amerika ein: 2,3 Millionen. Und das unter härteren Bedingungen als irgendwo sonst in der westlichen Welt.

Doch nun beginnt man selbst hier umzudenken. Nach dem jahrzehntelangen Wachstum hat die Gefängnisbevölkerung erstmals zu schrumpfen begonnen. "In den letzten Jahren haben sich die politischen Einstellungen zum Strafvollzug dramatisch verändert. Und der Wandel nimmt an Schwung noch zu", erklärt Adam Gelb vom Forschungszentrum Pew Center on the States. Und das nicht nur in liberalen Staaten. Nachdem 2007 in Texas noch 17.000 Gefangenenbetten fehlten, schloss man dort im letzten Juli zum ersten Mal ein Gefängnis. Dank milderer Strafen und vorzeitiger Entlassung wurde der 1100-Zellen-Komplex in Sugar Land nicht mehr gebraucht.

Zustände in Haftanstalt bringen "unnötiges Leid und Tod"

Mit jäh erwachtem Mitgefühl hat das wenig zu tun. Erst kürzlich hat Texas den Todeskandidaten die Henkersmahlzeit und den anderen Häftlingen das Mittagessen an den Wochenenden gestrichen. Die konservativen Politiker wurden lediglich auf den Konflikt zweier ihrer politischen Ideale aufmerksam: Die unerbittliche Justiz brachte eine Gefängnisindustrie hervor, die immer mehr Steuermilliarden verschlang. Mit dem rechten Traum eines bis zum Verschwinden verschlankten Staats ließ sich das schlecht vereinbaren. Selbst konservative Hardliner wie Newt Gingrich oder der Anti-Steueraktivist Grover Norquist befürworten Reformen.

Nicht immer handeln die Staaten freiwillig. In Kalifornien sind die Gefängnisse derart überfüllt, dass der Supreme Court im letzten Mai die Entlassung von 30.000 der 140.000 Häftlinge anordnete. Die Zustände in den auf 80.000 Insassen ausgelegten Haftanstalten verletzten das Verbot "grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung" und brächten "unnötiges Leid und Tod". "Ein Gefängnis, das nicht einmal elementarste Bedürfnisse der Insassen wie ausreichende medizinischer Versorgung sicherstellen kann, verletzt die Menschenwürde und hat keinen Platz in einer zivilisierten Gesellschaft", schrieb Richter Anthony Kennedy.

Mörder wechseln sich gegenseitig die Windeln

Auch andere Konsequenzen des hemmungslosen Wegsperrens werden immer offenkundiger. Seit den siebziger Jahren wurden in den USA auch für nichtgewaltsame Verbrechen lebenslange Haftstrafen ohne Chance auf Entlassung vergeben. Der Häftling darbt in der Zelle, bis er stirbt. Nicht bedacht hatte man, dass das Justizsystem sich damit die Pflege gebrechlicher und chronisch kranker Menschen aufhalste. Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind 125.000 Häftlinge über 55 Jahre alt, 280 Prozent mehr als 1995. Depressionen, Diabetes und Aids sind bei ihnen besonders verbreitet, was sie anfällig macht für Alzheimer und Altersdemenz.

Wer daran leidet, erträgt das Regime des Eingesperrtseins schlechter als Gesunde und braucht Hilfe für die einfachsten Verrichtungen. All das macht ihre Unterbringung bis zu neun Mal teurer als die gewöhnlicher Häftlinge. Manche Staaten zahlen jährlich bis zu 100.000 Dollar für solche alternden Gefangenen, um sie bis zu ihrem Tod zu versorgen. Andere lassen Mithäftlinge die Arbeit machen. Einer von ihnen ist Secel Montgomery, der seit 25 Jahren in San Luis Obispo einsitzt, weil er eine Frau erstochen hat. Jetzt wechselt er dem 60-jährigen Joaquin Cruz, der einen Mann erschossen hat, die Windeln.

Amerikas aufgeblähte Gefängnisse spielen eine so bedeutende Rolle als Wirtschaftsunternehmen, Billiglohn-Fabriken, Jugendheime und Pflegehospize, dass es nicht leicht fällt, von der Wegsperrkultur wegzukommen. "Die Versorgung, die er im Gefängnis bekommt, könnten wir ihm nie bieten", meint Cruz' Nichte. Dass einer wie er, der nicht mehr zwischen dem rechten und dem linken Schuh unterscheiden kann, keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, gerät dabei fast in Vergessenheit.

Unmenschliche Isolationshaft als Mittel gegen Gefängnisgangs

Mindestens ebenso populär wie "life without parole" war in den letzten Jahrzehnten die Isolationshaft. Bis zu 80.000 Gefangene erdulden sie über Jahre und Jahrzehnte, zwei Häftlinge in Louisiana sogar seit 40 Jahren. 23 Stunden täglich verbringen die Gefangenen in meist fensterlosen, schallisolierten und videoüberwachten Zellen. Fernsehen, Radio und Lektüre sind verboten. In der einen Stunde, in der sie die Zelle verlassen dürfen, tragen sie Handschellen. Viele von ihnen haben keinerlei menschlichen Kontakt. Ernesto Lira, der acht Jahre im kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis Pelican Bay eingesperrt war, beschreibt es so: "Man nimmt einen Menschen, zieht ihm die Haut ab und macht ihn zu einem Stück rohen Fleisch in einem Grab. Alles was er hat, ist sein Hirn."

Die entsetzlichen Folgen hat Alexis de Tocqueville schon 1821 nach einem Besuch im Gefängnis in Auburn, New York beschrieben. Man glaubte dort, die gnadenlose Konfrontation des Häftlings mit sich selbst sei die wirksamste Methode, ihn auf den rechten Weg zu bringen. Doch "diese absolute Einsamkeit . . . übersteigt die Stärke jedes Menschen. Sie verschlingt den Kriminellen unaufhaltsam und ohne Gnade. Sie reformiert ihn nicht, sie tötet ihn", schreibt er, und erzählt von Selbstmorden, Wahnsinn und Tod. Zwei Jahre später wurde die Einzelhaft abgeschafft.

Doch knapp 100 Jahre später war sie wieder da. Ein Staat nach dem anderen ließ sich ein "Supermax"-Gefängnis bauen. Schon der Name - kurz für "super-maximum security" - klingt nach dem sadistisch gefärbtem Eifer, mit dem man "die Schlimmsten der Schlimmen" einbetonierte. Nicht um Buße und Bekehrung ging es hier, sondern darum, den Häftlingsgangs in den übervollen Strafanstalten beizukommen.

In Kalifornien allein waren Gang-Mitglieder voriges Jahr für rund 1800 Morde und gewaltsame Angriffe gegen Wachleute und Mithäftlinge verantwortlich. Doch über Gangzugehörigkeit und Gefährlichkeit entscheiden nicht Gerichte, sondern das Gefängnispersonal. Verurteilt wurde Ernesto Lira für läppische drei Gramm Methamphetamin. In Isolationshaft kam er, weil man in seiner Zelle ein Bild mit Gang-Symbolen fand. Das Bild, so stellte sich später heraus, enthielt weder diese Symbole, noch hatte er es gezeichnet.

Schon 1996 verurteilte ein UN-Bericht Supermax-Gefängnisse als "unmenschlich und entwürdigend". Die Autoren einer Studie der wichtigsten amerikanischen Juristenvereinigung, der New York Bar Association, schrieben, die Haftbedingungen dort kämen "nach internationalem Recht der Folter" gleich. Auch der UN-Sonderberichterstatter für Folter Juan Mendez kam zu diesem Schluss. Die USA seien das einzige Land, das diese Strafe auch für mittelschwere Verbrechen verhänge, und das über längere Zeiträume als irgendwo sonst.

Werden Menschen wie Tiere behandelt, benehmen sie sich auch so

Die American Civil Liberties Union (ACLU) rief sogar zu internationalen Protesten auf. Wirksamer war jedoch die Klage gegen Christopher Epps, den Leiter der Gefängnisbehörde von Mississippi. 2007 explodierte im Hochsicherheitstrakt Unit 32 in Parchman die Gewalt. Wie gewohnt reagierten die Aufseher mit drakonischen Maßnahmen. Sie montierten die Deckenventilatoren ab und ließen die Häftlinge tagelang nicht aus ihren Verließen. Als Psychiater und Sachverständige das Gefängnis auf die Klage hin inspizierten, waren sie entsetzt: Die Häftlinge hatten die Zellenwände mit Exkrementen beschmiert, schrien nachts und litten an Halluzinationen. Jeder Zehnte von ihnen war geisteskrank.

Das Gericht zwang Epps daraufhin zu einem radikalen Weg: Er lockerte die Haftbedingungen, ließ die Häftlinge gemeinsam essen und Basketball spielen. Epps glaubte kaum, was er sah: Die Lage entspannte sich umgehend, die Probleme lösten sich von selbst. "Wenn Sie Menschen wie Tiere behandeln, werden sie sich auch so benehmen", sagt Epps heute. 2010 wurde Unit 32 geschlossen.

Der Staat inhaftiert Kriminelle und entlässt Monster

Dabei beginnen die wirklichen Probleme oft erst nach der Freilassung, wenn die seelischen Wracks meist ohne Betreuung aus den Isolationszellen ins Leben gestoßen werden. Ehemalige Supermax-Häftlinge werden öfter wieder straffällig und neigen zu gewaltsameren Verbrechen als andere Gefangene. Der Staat inhaftiert Kriminelle und entlässt Monster.

Selbst Kalifornien, der Staat mit den meisten Isolationshäftlingen, hat begonnen, seine Praxis zu überdenken. Wenn auch nicht freiwillig: Es bedurfte zweier Hungerstreiks in Pelican Bay, bis die Vollzugsbehörde erklärte, dass "die Anliegen der Häftlinge einige Berechtigung" hätten. Anderswo überzeugten auch hier wieder ökonomische Argumente: Ein Supermax-Häftling in Virginia kostet 90 Dollar am Tag, ein normaler Gefangener nur 60. Mittlerweile haben Colorado, Illinois, Maine, Ohio und Washington begonnen, ihre Supermax-Gefängnisse zu leeren.

Auch vom unmenschlichsten Instrument der amerikanischen Justiz, der Todesstrafe, rückt das Land nach und nach ab. Der Prozess vollzieht sich schleppend. Doch dass viele der mehr als 3000 Verurteilten, die auf der "death row" warten, eines natürlichen Todes sterben werden, ist eine gute Nachricht. 1999, 23 Jahre nach der Wiedereinführung der Todesstrafe, wurde mit 96 Gefangenen die größte Zahl von Urteilen vollstreckt, seitdem ist die Rate auf 43 im vergangenen Jahr gesunken. Noch dramatischer geht die neuer Verurteilungen zurück: 1995 waren es 312, 2011 nur noch 78.

Lebenslange Haft ist billiger als die Todesstrafe

Es gibt viele Gründe dafür: Die vielen fälschlich Verurteilten, deren Unschuld dank DNA-Analyse bewiesen wurde; die internationalen Proteste; die immer langwierigeren Prüfungen, Berufungsverfahren und Urteilsrevisionen, die den Straf- und Vollstreckungsapparat zunehmend paralysieren (ein Todeskandidat wartet im Durchschnitt 15 Jahre auf seine Exekution); und schließlich die exorbitanten Kosten, die entstehen, wenn eine archaische Strafform unter modernen Umständen angewendet wird.

Ein Todesurteil kostet drei Mal so viel wie lebenslange Haft. All das macht die Todesstrafe immer unpopulärer. Laut Umfragen halten Polizisten sie für die am wenigsten effektive Strafe. 90 Prozent der Kriminologen glauben nicht, dass sie zur Abschreckung von Mord dient. 61 Prozent der Amerikaner befürworten sie noch, doch das ist die niedrigste Zahl seit 39 Jahren. New York, New Jersey, New Mexiko und Illinois haben in den letzten Jahren die Todesstrafe abgeschafft. Connecticut hat die Abschaffung als 17. Bundesstaat soeben beschlossen. Und Kalifornien, das im November ein Referendum darüber abhält, könnte folgen.

Die Gegner der Todesstrafe sind Realisten. Amnesty International und andere Gruppen schlagen in Kalifornien vor, die gesparten Millionen zur effektiveren Verbrechensbekämpfung zu verwenden. Statt lebenslange Haft zu verdammen, wirbt die ACLU auf ihrer Website dafür - als günstigere und praktikablere Alternative zur Hinrichtung. Nur mit diesen politisch neutralen Argumenten ist überhaupt auf eine Mehrheit gegen die Todesstrafe zu hoffen. Europäer mag das schockieren, doch irgendwie muss der Mentalitätswandel eben beginnen.

Niemand verkörpert diese Wende besser als Ron Briggs und Donald Heller. 1978 gehörten sie zu den führenden Verfechtern der Proposition 7, mit denen die Todesstrafe in Kalifornien wieder eingeführt wurde. 34 Jahre später kämpfen sie für deren Abschaffung. "Es war ein kolossaler Fehlschlag", sagt Heller. "Der Preis unseres Systems der Todesstrafe ist so gigantisch, dass jeder Nutzen den es haben könnte - und ich glaube, der Nutzen geht gegen Null - derart enorme Mittel verschlingt, dass es keinem Ziel mehr dient."

185 Millionen Dollar zahlt der Staat jedes Jahr für den Unterhalt seiner death row. "185 Millionen für Anwälte und Kriminelle!", klagt Briggs. Und obwohl 720 zum Tode Verurteilte in Kaliforniens Gefängnissen ihren Tod erwarten, wurden in den letzten 34 Jahren nur 13 exekutiert. "Es funktioniert einfach nicht", sagt Briggs. Außerdem, das will er nicht verschweigen, geht er seit einiger Zeit wieder in die Kirche.

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