Migrationspolitik:Schwere Vorwürfe gegen Frontex

Lesezeit: 3 min

  • Gegen die europäische Grenzschutzschutzagentur Frontex stehen schwere Vorwürfe im Raum.
  • Medien berichten unter Berufung auf interne EU-Dokumente über massive Menschenrechtsverstöße, bei denen die Grenzschützer angeblich wegschauen.
  • Die EU-Kommission kündigte an, die Vorwürfe überprüfen zu wollen. Frontex streitet "kategorisch" ab, dass ihre Beamten an der Verletzung von Grundrechten beteiligt gewesen seien.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Thomas Kirchner, Brüssel/München

Die europäische Grenzschutzschutzagentur Frontex sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, Menschenrechtsverletzungen zu dulden und die Augen vor exzessiver Gewalt zu verschließen. Dies berichten das ARD-Magazin "Report München", die britische Zeitung The Guardian sowie die Recherchewebsite Correctiv unter Berufung auf interne Dokumente, die von der Frontex-Beauftragten für Grundrechte verfasst wurden.

Einer dieser "Mängelberichte", die an den Verwaltungsrat geschickt werden, schildert Vorgänge an der ungarisch-serbischen Grenze. Demnach hätten ungarische Polizisten zehn Flüchtlinge, die nach eigenen Angaben zwischen zehn und 17 Jahre alt sind, im Grenzgebiet entdeckt und einen Polizeihund auf sie gehetzt. Drei Flüchtlinge seien gebissen worden, Pfefferspray und Schlagstöcke seien eingesetzt worden, um die jungen Männer zurück nach Serbien zu drängen.

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Wie an vielen anderen Einsatzorten kooperiert Frontex mit der ungarischen Grenzpolizei und informierte diese über den Fall. Die Beschwerde wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Andere Fälle, mit Begriffen wie "exzessive Gewaltanwendung", "Schlagen mit Draht" oder "Misshandlung von Flüchtlingen" beschrieben, sollen außer in Ungarn auch in Bulgarien und Griechenland aufgetreten sein. Interne Frontex-Regeln und Menschenrechtsstandards würden regelmäßig missachtet, heißt es in einem Bericht vom März dieses Jahres. So würden Minderjährige ohne Begleitung von Erwachsenen abgeschoben und zu oft Handschellen verwendet. "Fesseln wurden nicht so genutzt, wie es notwendig und verhältnismäßig ist", schreibt die Grundrechte-Beauftragte, die nur über neun Mitarbeiter verfügt und deren Budget 2017 noch geringer war als die Frontex-Ausgaben für Briefporto; mittlerweile steht mehr Geld zur Verfügung.

Eine Sprecherin der EU-Kommission sagte am Montag, man kenne die Berichte über Misshandlungen an den Grenzen und nehme die Vorwürfe sehr ernst. Jede Form der Gewalt gegenüber Flüchtlingen und Migranten sei inakzeptabel, weshalb die Behörde nun mit der in Warschau ansässigen Agentur Frontex überprüfen werde, ob die Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Frontex streitet "kategorisch" ab, dass ihre Beamten an der Verletzung von Grundrechten beteiligt gewesen seien. Bisher sei keine einzige Beschwerde gegen einen Frontex-Beamten eingegangen. Der bulgarische Innenminister Mladen Marinow wies die Vorwürfe ebenfalls zurück: "Ich kann kategorisch erklären, dass Bulgarien sämtliche Abkommen und Vereinbarungen zu den Menschenrechten einhält." Bulgarische Grenzbeamte würden nur dann physische Gewalt anwenden, wenn sie selbst angegriffen würden.

Die Kommissionssprecherin betonte, dass Frontex die Mitgliedstaaten und deren Grenzbeamten nur "unterstütze" und diese natürlich für die Einhaltung von EU-Recht und dem in internationalen Konventionen verankerten Schutz für Flüchtlinge verantwortlich seien. Migrationsexperten und Menschenrechtler warnen seit Längerem vor den rechtsstaatlichen Problemen, die mit dem Ausbau des EU-Grenzschutzes einhergehen. Pro Asyl spricht von einem "grundsätzlichen Kontrollmangel". Immer wieder komme es zu Gewalt bei Einsätzen an Grenzen, doch bleibe offen, "wer die rechtliche Verantwortung trägt".

Budget für Frontex soll stark steigen

Frontex war bis zum Beginn der Flüchtlingskrise eine eher kleine Agentur der EU, die die Handlungen der Mitgliedstaaten an den Außengrenzen koordinierte. Ende 2016 wurde sie mit erheblich erweiterten Kompetenzen zur Europäischen Agentur für Grenzschutz und Küstenwache ausgebaut; im September 2018 folgte auf Drängen der Mitgliedstaaten ein Vorschlag der EU-Kommission für einen weiteren Ausbau. So soll die ständig bereitstehende Truppe von 1500 auf 10 000 Grenzschützer aufgestockt werden. Ursprünglich war dies schon 2020 vorgesehen. Die Mitgliedstaaten wollen das erst 2027, die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen peilt 2024 an. Auch das Budget soll stark steigen, allein in den kommenden zwei Jahren um mehr als 500 Prozent.

Einsicht in die insgesamt 600 "Mängelberichte" der Grundrechtebeauftragten von Frontex erhielten die Medien dank der Hartnäckigkeit der Aktivisten Arne Semsrott und Luisa Izuzquiza. Beide setzen sich seit Jahren für mehr Transparenz von Behörden auf nationaler und europäischer Ebene ein. Izuzquiza arbeitet bei der Madrider Organisation Access Info, Semsrott ist Projektleiter bei "Frag den Staat" in Berlin. Er wollte schon 2017 herausfinden, wie viele Schiffe Frontex im Mittelmeer einsetzt und an welchen Orten sie sich befinden. Es geht um den unter Seenotrettern verbreiteten Verdacht, Frontex meide bewusst jene Gebiete, wo Flüchtlingsboote oft kentern.

Doch Antworten aus der Warschauer Frontex-Zentrale erhalten die Aktivisten nicht. Denn ähnlich wie das deutsche Informationsfreiheitsgesetz, das Semsrott als "Mittel gegen die Ohnmacht" einzelner Personen gegenüber mächtigen Institutionen bezeichnet, enthält das europäische Gegenstück, die Verordnung 1049/2001, sehr allgemein formulierte Ausnahmeregeln. Artikel 4 erlaubt es EU-Stellen nämlich, die Herausgabe von Dokumenten zu verweigern, wenn dies die "öffentliche Sicherheit" gefährde - und darauf beruft sich die Grenzschutzagentur.

Dem widersprechen Semsrott und Izuzquiza: Die Behörde habe auch eine Rechenschaftspflicht vor der Öffentlichkeit. Also haben sie Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg verklagt, im Juli fand die mündliche Verhandlung statt. "Wir wollen per Grundsatzurteil klären, wie viel Transparenz Frontex gewähren muss", sagt Semsrott zur SZ. Der EuGH wird in einigen Monaten urteilen.

© SZ vom 06.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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