Migration:Der verpatzte Schulterschluss

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In der Generaldebatte im Bundestag, wirft Kanzler Olaf Scholz Unionsfraktionschef Merz vor, nie wirklich an einer Einigung interessiert gewesen zu sein – was dieser zurückweist. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Hat Innenministerin Nancy Faeser die CDU an der Nase herumgeführt? Wollte CDU-Chef Friedrich Merz nie wirklich die Einigung? Was vor, beim und nach dem Migrationsgipfel geschah.

Von Paul-Anton Krüger, Henrike Roßbach, Berlin

Als am Dienstagnachmittag um 15 Uhr alle zusammensitzen, ist es ziemlich voll in dem Konferenzraum im Bundesinnenministerium. Rund 40 Leute haben Platz genommen für das, was draußen längst „Migrationsgipfel“ heißt. Nach dem Terroranschlag von Solingen, bei dem ein abgelehnter Asylbewerber auf einem Stadtfest drei Menschen mit einem Messer ermordet hatte, waren Regierung und Opposition aufeinander zugegangen. Ein Schulterschluss im Kampf gegen die irreguläre Migration schien möglich zu sein – auch, um den Rechtsradikalen von der AfD ihr Lieblingsnarrativ zu nehmen, die da oben bekämen beim Thema Zuwanderung wegen ihrer generellen Unfähigkeit nichts hin.

Das Treffen am Dienstagnachmittag soll aus dieser Initiative nun reale Politik machen. Dem Vernehmen nach hatte Unionsfraktions- und CDU-Chef Friedrich Merz eigentlich ein anderes Format im Sinn; eine kleine Runde, Vertraulichkeit. Nun aber ist da dieser volle Raum, mit den zuständigen Ministern der Ampel, mit Staatssekretären, Ministerialbeamten, Vertretern der Fraktionen und dazu vier Abgesandten der Union. Sie schickte neben Hessens Innenminister Roman Poseck als Repräsentant der unionsregierten Länder auch noch Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, Alexander Hoffmann, für die CSU im Bundestag, und, als Chefverhandler, den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion, den Merz-Vertrauten Thorsten Frei (CDU).

„Kein Interesse daran, das Migrationsthema in den Wahlkampf zu ziehen“: der CDU-Politiker Thorsten Frei, im Hintergrund Kanzler Olaf Scholz. (Foto: Liesa Johannssen/REUTERS)

Klar, bei einem derart komplexen und politisch heiklen Thema wie der Migration wollen viele mitreden – und müssen es wohl auch, denn ohne Experteneinschätzungen, gerade im rechtlichen Bereich, geht gar nichts. Auf der anderen Seite kann man es als eine Art politisches Naturgesetz betrachten, dass große und sehr große Runden selten geeignet sind, heikle Entscheidungen zu treffen. Nicht umsonst werden in der Ampel die besonders krisenhaften Krisen quasi routinemäßig von Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister bearbeitet – und nicht vom Koalitionsausschuss, den sie in der Ampel selbst zu groß finden.

Für einen echten Durchbruch waren am Dienstag die Voraussetzungen jedenfalls nicht wirklich ideal. Trotzdem waren die Erwartungen hoch, und wie immer, wenn in der Politik etwas schiefgegangen ist, will hinterher niemand schuld gewesen sein. Die Erzählungen, wer hier wen vor den Kopf gestoßen hat, wer den Erfolg ernsthaft wollte und wer eher nicht, gehen in den Tagen danach naturgemäß auseinander. Die Abläufe aber lassen sich einigermaßen klar rekonstruieren.

Am Dienstagmorgen telefoniert Unionsverhandler Frei mit Innenministerin Nancy Faeser von der SPD. Die Union hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, ob sie sich am Nachmittag überhaupt mit an den Tisch setzt. Knackpunkt ist die Frage, ob die Ampel sich auf die Forderung nach flächendeckenden Zurückweisungen an der Grenze einlässt. Offensichtlich aber stellt Frei das zufrieden, was die Ministerin ihm am Telefon sagt. Denn kurz danach teilt er in einem Pressegespräch mit, dass die Union teilnehmen werde an dem Treffen.

Am Nachmittag, als die Sitzung beginnt, erläutert Faeser dann ihr Konzept. Eine Tischvorlage, also ein Papier, gibt es dazu nicht. Frei schreibt mit, um der Ministerin antworten zu können. Auf Unionsseite macht sich schnell Ernüchterung breit. Was die Innenministerin vorschlägt, ist aus ihrer Sicht nicht das, was sie Frei am Morgen in Aussicht gestellt hatte, dass die Ampel nämlich zu Zurückweisungen bereit sei.

Frei sagt der Süddeutschen Zeitung später: „Als die Ministerin ihren Vorschlag im Innenministerium vorstellte, war der Unionsseite umgehend klar: Die Koalition versucht, die Öffentlichkeit durch einen irreführenden Sprachgebrauch hinter das Licht zu führen.“ Dublin-Überstellungen, die aus Einrichtungen nahe der Grenzen erfolgten, würden nun plötzlich zu „Zurückweisungen“ umdeklariert. „Doch das wäre eine Migrationspolitik nach dem Grundsatz: Raider heißt nun Twix, sonst ändert sich nichts.“ Für die Union sei das nicht annehmbar.

Als es am Dienstagnachmittag nach zwei Stunden keine Wortmeldungen mehr gibt, kommt die Unionsseite zu dem Schluss, das Gehörte sei zu wenig, um in diesem Format weiterzumachen. Alle packen dem Vernehmen nach schon ihre Papiere zusammen, da meldet sich FDP-Justizminister Marco Buschmann noch mal zu Wort und schlägt eine Art Pilotversuch vor: Man könne ja an einem kleinen Grenzabschnitt die direkten Zurückweisungen testen, wie sie die Union fordert. Und dann sehen, wie die Verwaltungsgerichte urteilen – das werde man binnen Wochen wissen.

Buschmann ist sich ziemlich sicher, dass die ursprüngliche Forderung der Union aus juristischen Gründen nicht umsetzbar ist. Seine Beamten haben ihm nicht nur ihre Sicht auf die Rechtslage aufgeschrieben, sondern auch die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofs – offenkundig rechtswidrig lautet die Einschätzung unter dem Strich. Dass Buschmann dennoch das Angebot mit dem Pilotversuch gemacht hat, bestätigt das Justizministerium später. Regierungssprecher Steffen Hebestreit fügt jedoch hinzu, Buschmann habe diesen Vorschlag im Kontext der Diskussion unterbreitet – um zu sagen: „Wollen wir es darauf ankommen lassen?“ Sprich: Niederlagen vor den Gerichten zu riskieren?

Frei jedenfalls findet die Idee absurd und lehnt ab. Er sagt der SZ: „Wer solche Gespräche mit dem aufrichtigen Willen führt, zu einem Ergebnis zu kommen, verhält sich nicht so.“ In der Ampel halten sie dagegen umgekehrt den Ausstieg der Union für ein parteipolitisch motiviertes Manöver, selbst den Unionsvertretern sei die rechtliche Problematik bewusst. Sie würden dem einfach entgegenhalten, dass sie die Rechtsprechung falsch finden, und sich auf drei namhafte Juristen berufen. Anders als die könne sich die Bundesregierung aber nicht offen gegen die Gerichte stellen. Aus Sicht von SPD, Grünen und FDP hat man der Union mit dem Pilotversuch zudem exakt das geboten, was sie gefordert hat – unbenommen schwerer rechtlicher Bedenken und auch der schroffen Reaktionen in Nachbarländern wie Polen und Österreich.

Am Tag nach dem Scheitern des Treffens, in der Generaldebatte im Bundestag, wirft Kanzler Olaf Scholz Unionsfraktionschef Merz vor, nie wirklich an einer Einigung interessiert gewesen zu sein – was dieser als „infam“ zurückweist. Frei beteuert: „Wir haben kein Interesse daran, das Migrationsthema in den Wahlkampf zu ziehen.“ Das Problem müsse gelöst werden, zum Wohle des Landes und der liberalen Demokratie.

Und jetzt?

Inzwischen gibt es Angebote für neue Gespräche von Vertretern beider Seiten. FDP-Chef Lindner etwa schlägt vor, das diskrete Dreierformat zwischen ihm, Scholz und Vizekanzler Robert Habeck aufzubohren und Merz dazu zu bitten. Im Kanzleramt stößt das offenbar auf wenig Enthusiasmus. Regierungssprecher Hebestreit jedenfalls sagt am Freitag, nur im Zusammenwirken mit den Bundesländern könne beim Thema Migration etwas erreicht werden. Dafür gebe es eingeführte Gesprächsformate. Derlei könne nicht in einer „Männerrunde bei einer Tasse Kaffee“ geklärt werden.

Trotzdem beteuern alle Beteiligten weiterhin, die Türen seien offen. Ob sie nach der Landtagswahl in Brandenburg am nächsten Wochenende aber jemand durchschreiten wird, ist ungewiss. Zur Vertrauensbildung zwischen Ampel und Opposition war diese Woche allerdings sicher kein Beitrag.

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