Migration:Wo Europas moralischer Kompass fehlt

The Wider Image: The Greek island holding back a human tide

Aus Syrien geflüchtete Kinder auf Lesbos.

(Foto: REUTERS)
  • Der Schweizer Soziologe und Politiker Jean Ziegler war im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
  • Mit seinem Buch liest er der EU die Leviten für ihre Flüchtlingspolitik.

Rezension von Friederike Bauer

Jean Ziegler hat sich auf die Reise gemacht - an die Außengrenze Europas und damit auch an den Rand unserer Wertegemeinschaft: Er ist nach Griechenland geflogen, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen vom Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

Was er dort vorgefunden und in seinem neuen Buch beschrieben hat, ist nicht ganz neu - diverse UN- und Nichtregierungs-Organisationen weisen schon länger auf die Missstände dort hin -, aber in dieser eindringlichen Zusammenstellung bestürzend.

Die Zustände dort sind unmenschlich und untragbar. Das Lager Moria, in einer ehemaligen Kaserne angelegt, ist heillos überfüllt. Ursprünglich für 3000 Soldaten konzipiert, hausen dort nach UNHCR-Angaben mittlerweile deutlich mehr als 10 000 Flüchtlinge, viele davon (unbegleitete) Kinder.

Weil der Platz längst nicht mehr ausreicht, weichen die Schutzsuchenden in die angrenzenden Olivenhaine aus. Sie leben völlig beengt zum Teil unter Plastikplanen, schlafen auf Pappkartons, erhalten zu wenig oder schlechtes Essen und müssen mit Sanitäranlagen auskommen, deren Gestank Ziegler "schockiert".

Erschreckend sind aber nicht nur die unhaltbaren äußeren Bedingungen, sondern auch die Zeit, die deren Insassen dort verbringen müssen.

Eigentlich sollen die Flüchtlinge dort nur übergangsweise unterkommen, bis klar ist, ob sie einen Asylantrag stellen und weiterziehen können. "Ein frommer Wunsch!" Viele müssten mehrere Jahre ausharren, bis sie endlich Klarheit über ihr weiteres Schicksal hätten - eine enervierende Zeit des Wartens und der Perspektivlosigkeit, die sich für die Betroffenen schier endlos hinzieht.

"Wohin ich auch blicke, mit wem ich auch spreche in Moria, ich stoße auf Tragödien. Die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge (...) ist gezeichnet von den Schrecken, die sie in ihren Herkunftsländern erlebt haben, oder durch die Leiden und Demütigungen, die sie während ihrer langen und schmerzlichen Odyssee erdulden mussten."

Das jetzige System an der Südgrenze Europas geht auf die Zeit nach 2015 zurück, als Flüchtlinge zu Hunderttausenden nach Europa strömten, überwiegend aus den Krisengebieten des Nahen Ostens.

Statt eine gemeinsame und EU-weite Regelung über den Umgang mit Asylsuchenden zu verabschieden und sie gerecht auf alle Länder zu verteilen, hat man das Problem mangels Übereinstimmung an die Außengrenze der Union verlagert und unter anderem sogenannte Hotspots zur Erstregistrierung eingerichtet. Auch Moria ist ein solcher Hotspot. Das Ganze wurde 2016 kombiniert mit einem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU mit der Türkei.

Alles in allem ist hier ein komplexes Flüchtlingsregime entstanden, wie Ziegler sinngemäß schreibt, bei dem sich Bürokratie, Korruption, Unvermögen, Überforderung und unklare Zuständigkeiten mit dem Willen zur Abschreckung weiterer Flüchtlinge ungut mischen.

"Diese Strategie ist zutiefst unmoralisch", lautet seine zusammenfassende und begründete Anklage an die EU, zu der auch ein ganzes Kapitel über die Opfer auf dem Mittelmeer gehört. Zuzustimmen ist auch seinem Lamento über die "flüchtlingsfeindlichen Staaten" Osteuropas.

Migration: Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Verlag C. Bertelsmann, München 2020. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 144 Seiten, 15 Euro. E-Book: 12,99 Euro.

Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Verlag C. Bertelsmann, München 2020. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 144 Seiten, 15 Euro. E-Book: 12,99 Euro.

Recht hat er zudem mit dem Vorwurf, die derzeitige Asyl-Praxis widerspreche den Grundüberzeugungen einer Europäischen Union, die sich Demokratie und Menschenrechte auf ihre blaue Fahne geschrieben habe.

Insofern hat Ziegler ein wichtiges Buch verfasst in einer Zeit, in der sich die EU mit einer frischen Kommission gerade wieder neu sortiert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, dass sie bei den Asylverfahren mehr "Fairness und Lastenverteilung" erreichen möchte, jedoch noch nicht erkennen lassen, wie das geschehen soll.

Sie wird voraussichtlich im März einen Vorschlag dazu unterbreiten. Dieses Buch könnte ihr dafür entsprechende Hinweise geben.

Allerdings bewegt sich Zieglers Buch fast ausschließlich auf einer absoluten Anspruchs- und Rechteebene. Die politischen Realitäten scheinen ihn nicht besonders zu kümmern. Er denkt vom Ideal her und ist entsprechend kompromisslos in seiner Argumentation.

Der Schweizer ist kompromisslos in seiner Haltung und Rhetorik

Das unterstreicht auch seine in Teilen überzogene Rhetorik. So bedient er sich immer wieder platter Klischees, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben. UN-Generalsekretär Antonio Guterres wird dann zu einem "echten Portugiesen, von überwältigender Vitalität und unerschöpflicher Energie", der "Widerspruch nur schwer ertragen" kann.

Dirk Niebel, mittlerweile bei Rheinmetall, führt er als eine der "eigenartigsten Figuren unter den Waffenhändlern, die sich im Dunstkreis der Europäischen Kommission bewegen" ein, ohne dass diese Rolle näher beschrieben oder belegt würde.

Und generell kommt er bei den EU-Verantwortlichen selten ohne despektierliche Zusätze wie die "Funktionäre in Brüssel", "die (finsteren) Bürokraten in Brüssel", die "Brüsseler Betonköpfe" oder sogar die "Übeltäter in Brüssel" aus.

Dadurch erhält das Buch einen unangenehm reißerischen Ton an falscher Stelle und trägt zudem zu einer Spracheskalation bei, wie sie leider immer mehr um sich greift. Dabei hätten Fakten und Eindrücke von der Griechenlandreise und der Abgleich mit den einschlägigen Menschenrechtsdokumenten genügt, um die zentrale Botschaft in die Welt zu transportieren: Der Umgang Europas mit Flüchtlingen und Asylsuchenden steht im krassen Widerspruch zu den eigenen Maßstäben und bedarf dringend einer umfassenden Neuregelung.

Mehr hätte es nicht gebraucht.

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