Süddeutsche Zeitung

Migration:Wende zu mehr Menschlichkeit

Ob Anker-Zentren, Arbeitsverbote oder Kettenduldungen - die angehende Regierung räumt mit vielen Härten der Asylpolitik auf. Alle drei Parteien wollen eine humanere, pragmatische Politik - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.

Von Nina von Hardenberg

Sie wolle einen "Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten", einen "Paradigmenwechsel", schreibt die angehende Regierung. Und tatsächlich feiern einige Flüchtlingsorganisationen das, was ab Seite 137 des Koalitionsvertrags auf sechs Seiten zu lesen ist, bereits als Asylwende. "Da steht fast alles drin, was wir gefordert haben", sagt etwa Stephan Reichel von der kirchlichen Flüchtlingsorganisation Matteo. Auch Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, sieht große Fortschritte, wenn auch nicht in allen Bereichen.

In kurzen, schneidenden Sätzen räumt die Ampel mit den Härten der Asylpolitik der Vorgängerregierung auf: "Das Konzept der Anker-Zentren wird von der Bundesregierung nicht weiterverfolgt", lautet so ein Satz, der die großen, von Horst Seehofer erfundenen Sammelunterkünfte beerdigt. Der Bundesinnenminister wollte mit den Anker-Zentren Abschiebungen beschleunigen. Dass Kinder dort im ersten halben Jahr unbeschult blieben, nahm man genauso in Kauf wie die Tatsache, dass die großen Heime mit ihrer Perspektivlosigkeit und der Unruhe der nächtlichen Abschiebungen manch einen Geflüchteten erneut traumatisierten. Enttäuscht zeigt man sich bei Pro Asyl allerdings darüber, dass die Aufenthaltszeit in Sammelunterkünften nicht wieder gesetzlich begrenzt werden soll. Waren früher höchstens drei Monate erlaubt, so sind es derzeit bis zu 18.

Grundsätzlich aber will die neue Koalition Anker-Zentren nicht mehr, genauso wenig wie Abschiebehaft für Kinder und Jugendliche und Kettenduldungen - jene Warteschleifen, in denen Menschen oft über Jahre festsitzen, wenn sie nicht abgeschoben werden können, aber auch nicht ankommen dürfen. Ein Reizwort der Asylpolitik nach dem anderen wirft die neue Koalition über Bord.

"Endlich wird das Grundrecht auf Familie wieder eingesetzt"

Familiennachzug für subsidiär Geschütze ist auch so eins. Nach dem großen Zustrom von 2015 durften Flüchtlinge, etwa aus Bürgerkriegsländern, ihre Angehörigen nur noch sehr eingeschränkt nachholen. Das wird abgeschafft. Eltern, die allein geflohenen Kindern hinterherziehen, sollen zudem auch die anderen Geschwister mitnehmen dürfen. Wer zu einem Ehepartner nach Deutschland will, muss nicht mehr im Vorfeld schon akribisch seine Deutschkenntnisse nachweisen. Ein paar Zeilen sind das, die manches Leid von seit Jahren getrennten Familien beenden dürften. "Endlich wird das Grundrecht auf Familie wieder eingesetzt", sagt Günter Burkhardt dazu.

Der eigentliche Paradigmenwechsel aber zeigt sich in der Integrationspolitik. Migranten soll geholfen werden, schneller in Deutschland anzukommen. Und zwar - und das ist neu - unabhängig von ihren tatsächlichen Chancen auf Asyl. Deutschkurse etwa gibt es künftig für alle nach Deutschland Kommenden von Anfang an. Und auch in der Arbeitswelt gilt: Wer hier ist, soll auch arbeiten. "Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab", heißt es im Koalitionsvertrag.

Das dürfte die Praxis einiger Ausländerbehörden auf den Kopf stellen: Bislang versuchte man gerade in Bayern, abgelehnte Asylbewerber - und auch solche mit schlechten Asylchancen - möglichst von Arbeit und Integration fernzuhalten, gerade damit diese ihren Aufenthalt nicht "verfestigten". Lange vor der tatsächlichen Abschiebung kam häufig das Arbeitsverbot. Migranten hingen zum Teil Monate bis Jahre untätig in den Sammelunterkünften fest.

"Das ist humanistisch, das ist christlich, und das ist auch ökonomisch vernünftig"

Aus dem neuen Koalitionsvertrag klingt nun ein anderer Geist: Wer hier ist, soll aus dieser Zeit auch etwas mitnehmen, könnte künftig gelten. Integration ab Tag eins, ob die Migranten nun bleiben oder nicht. "Das ist humanistisch, das ist christlich, und das ist auch ökonomisch vernünftig", sagt dazu Stephan Reichel von der Organisation Matteo. Dabei macht die Ampel-Koalition durchaus klar, dass nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, bleiben könne. Sie will vielmehr eine "Rückführungsoffensive" starten, "um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern."

Hauptsächlich aber plant die neue Regierung eine humanitäre und zugleich pragmatische Politik. Möglich ist das, weil die Parteien der Ampel in der Asylpolitik nahezu das gleiche wollen - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus. Die humanitären Anliegen der SPD und der Grünen treffen sich hier auf positive Weise mit den liberalen Einstellungen der FDP zu Einwanderungsrecht und Arbeitsmarktöffnung für Migranten. So ist es möglich, dass diese drei Parteien in großer Einigkeit etwa die Visavergaben beschleunigen oder arbeitsamen und gut integrierten Migranten schneller zu einem Bleiberecht verhelfen wollen. Und so ist es zumindest auch denkbar, dass sie wie angekündigt ein "in sich stimmiges, widerspruchsfreies Einwanderungsrecht" auf den Weg bringen werden.

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