Süddeutsche Zeitung

Migration:"Was wäre denn die Alternative?"

Billi Bierling von der Humanitären Hilfe der Schweiz über die Lage der Flüchtlinge in Griechenland.

Interview von Tobias Zick

Die Garmischerin Billi Bierling ist Kommunikationsexpertin der Humanitären Hilfe der Schweiz, einer staatlichen Organisation, die dem Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) untersteht. Mit einem Team hat sie die vergangenen zwei Wochen im neuen Lager auf Lesbos verbracht, um die griechischen Behörden bei der Deckung der Grundbedürfnisse der von den Bränden in Moria vertriebenen Menschen zu unterstützen.

Sie sind vor gut zwei Wochen auf Lesbos angekommen. Wie war zu dem Zeitpunkt die Lage?

Wir sind am abgebrannten Lager Moria vorbeigefahren, da lag alles in Schutt und Asche. Viele Migrantinnen und Migranten waren dabei, ihre letzten Habseligkeiten aus den Trümmern zu zerren. Manche zogen ihr weniges Hab und Gut auf Wägelchen oder in Waschzubern hinter sich her, durch die sengende Hitze. Auf der Hauptstraße zur Inselhauptstadt Mytilini saßen Tausende von Menschen, die erst nicht wussten wohin. Hier im neuen Lager standen erst ein paar einzelne Zelte.

Ein Großteil der Vertriebenen weigerte sich zunächst, ins neue Lager verlegt zu werden. Wie kam es, dass der größte Teil der mehr als 12 000 Menschen nun doch hineingegangen sind?

Am Donnerstag, 17. September, gab es eine größere Polizeiaktion. Wobei, ich hatte nicht den Eindruck, dass jemand gewaltsam hereingezogen worden wäre. Die Atmosphäre war und ist seither weitgehend friedlich.

Organisationen wie Ihre wurden dafür kritisiert, dass sie am Aufbau einer Struktur mitarbeiten, das viele Flüchtlinge mehrheitlich nicht wollen. Es gab immer wieder Demonstrationen, auf denen die Menschen "Freiheit" forderten anstelle eines neuen Lagers.

Es fehlte an Trinkwasser; wenn man da nicht helfen würde, wäre man nicht humanitär. Da die Humanitäre Hilfe der Schweiz sehr viel Erfahrung mit sauberem Trinkwasser hat, war es schnell klar, dass wir in diesem Bereich helfen würden. Es geht hier um Nothilfe in einer akuten Krise. Was wäre denn die Alternative?

Am Anfang berichteten Insassen des neuen Camps, es gebe zu wenig Wasser, nur eine Mahlzeit am Tag, als Unterlage zum Schlafen nur Decken. Wie ist die Versorgung jetzt?

Man darf die Lage nicht schönreden, sie ist suboptimal. Aber ich denke, was die Grundbedürfnisse angeht, sind die Leute mittlerweile versorgt. Die Hilfsorganisationen und auch die griechischen Behörden sind rund um die Uhr am Arbeiten. Vor zwei Wochen war hier, auf diesem Landstreifen, fast nichts. Und jetzt stehen hier um die 1000 Zelte. Die Essensverteilung wurde auf dreimal täglich aufgestockt. Ich gehe jeden Tag viel herum, schaue auch in Zelte. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute hungern müssten. Einige Organisationen helfen ja auch mit Bargeld - bei dem Supermarkt hier in der Nähe stehen die Leute Schlange.

Manche Hilfsorganisationen klagten anfangs, sie würden von den Behörden bei ihrer Arbeit behindert.

Wir haben das nicht so erlebt, aber wir sind ja auch eine Regierungsorganisation. Für uns ist die Zusammenarbeit mit den einheimischen Behörden entscheidend. Wir sind von der griechischen Regierung angefragt worden, ob wir helfen könnten. Die Zeiten, in denen man von sich aus beschließt, wir kommen und helfen - die sind auch in Ländern wie Indonesien schon lange vorbei. Wir sind Gast in diesem Land, wir müssen mit den Behörden arbeiten.

Kritiker sagen: Da wird jetzt halt ein zweites Moria aufgebaut.

Ich denke, man hat viel aus den Fehlern in Moria gelernt. Das dortige Lager war in verschiedene Sektoren eingeteilt, und in jedem Sektor war beispielsweise eine andere Organisation für die Essensausgabe zuständig. Da gab es immer wieder Unmut, wenn die Menschen in einem Sektor mehr oder besseres Essen bekamen als die anderen.

Und in Moria mussten die Menschen teils stundenlang vor den Toiletten anstehen.

Ja, auch hier im neuen Lager war die Toilettensituation noch vor einer Woche unzureichend und schwierig. Inzwischen gibt es immerhin etwa 350 Toiletten, das ist immer noch nicht viel für mehr als 10 000 Leute, aber es wird besser, auch bei der Reinigung.

Sie haben die Trinkwasserversorgung aufgebaut. Wie lief das?

Nachdem die griechische Regierung uns um Hilfe gebeten hatte, vergingen gerade einmal 72 Stunden, dann floss das erste Wasser. In der Zeit haben wir den Charterflug von Zürich nach Lesbos organisiert, darin haben wir die großen Wasserblasen hergeschafft, die bestehen aus dem gleichen Material wie Gummiboote, es passen jeweils 5000 oder 10 000 Liter Wasser hinein. Der Andrang war anfangs enorm, die Leute hatten ja tagelang kein Wasser zum Trinken oder Waschen. Da der Boden hier auf Lesbos sehr undurchlässig ist und schlecht versickert, mussten wir Gullis graben und diese alle zwei Tage auspumpen. Das ist schon eine große Herausforderung.

Und jetzt haben alle genug Wasser? Man hörte in den vergangenen Tagen Berichte von dehydrierten Kindern im Lager.

Ich denke, das ist vorbei. Es gibt pro Person jetzt am Tag 15 Liter Wasser, das gilt als das absolute humanitäre Minimum - aber die Leute bekommen ja zusätzlich noch Wasser in Flaschen bei der Essensverteilung. Ich habe zuletzt keine langen Schlangen mehr an den Wasserpumpen gesehen.

Immerhin. Das lange Schlangestehen in der Hitze gehörte ja schon im alten Lager Moria zu den größten Belastungen.

Ja, in den letzten Tagen war es hier immer noch sehr heiß und windig. Entlang der Hauptstraße gibt es inzwischen mobile Ladestationen, dorthin kommen die Leute mit ihren Wasserkochern, Reiskochern oder ihren Mobiltelefonen - allem, was Strom braucht. Da standen die Menschen in der sengenden Hitze. Wir haben Dächer aufgebaut, darunter Stühle und Tische, fixiert am Boden. Das sind Kleinigkeiten - aber so können sich die Leute in den Schatten setzen, während ihr Wasser kocht. Hier haben sie jetzt auch einen geschützten Platz, den sie als Treffpunkt nutzen können.

Welche Herausforderungen bleiben jetzt noch?

Ich mache mir schon Sorgen, wie es sein wird, wenn in zwei, drei Wochen der Herbstregen beginnt. Der Grundwasserspiegel hier ist sehr hoch, und der Boden ist sehr undurchlässig. Wenn es stark regnet, wird es Überschwemmungen geben. Da müssen die Behörden sich jetzt dringend darum kümmern, ein gutes Entwässerungssystem zu schaffen.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2020
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