Migration:Warum Flüchtlinge zu falschen Syrern werden

Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze

Ein Flüchtling zeigt an der deutsch-österreichischen Grenze seinen syrischen Pass. Foto: Armin Weigel/dpa

(Foto: dpa)
  • Laut Bundesinnenministerium gibt es in Europa Flüchtlinge, die sich fälschlicherweise als Syrer ausgeben, weil sie sich so bessere Chancen auf Asyl erhoffen.
  • Wie viele angebliche Syrer es gibt und woher sie tatsächlich stammen, darüber gibt es kaum verlässliche Erkenntnisse.
  • Die einzige gesicherte Zahl spricht allerdings dagegen, dass es sich um ein Massenphänomen handelt: Im ersten Halbjahr 2015 stellte die Bundespolizei 118 ge- oder verfälschte syrische Reisepässe sicher. 100 davon gehörten Syrern.

Von Ruth Eisenreich und Paul Munzinger

Unter den Flüchtlingen in Europa sind Syrer, so zynisch das klingen mag, privilegiert. Ihre Fluchtgründe - die Schergen von Diktator Assad und die Schlächter des IS - sind über jeden Zweifel erhaben. Europa macht es ihnen deshalb leichter als anderen. Nach der Ankunft werden sie schneller registriert. In Deutschland droht ihnen derzeit keine Abschiebung, sie erwartet ein beschleunigtes Asylverfahren, fast alle dürfen bleiben. Syrer bekommen schneller einen befristeten Aufenthaltstitel, sie können schneller Ehepartner und Kinder nachholen, sie dürfen schneller arbeiten.

Bei Flüchtlingen, die nicht aus Syrien kommen, weckt das Begehrlichkeiten. Manchen muss eine syrische Identität wie eine Eintrittskarte nach Europa erscheinen. Sie geben sich als Syrer aus, obwohl sie keine sind. Es gebe Hinweise, teilt das Innenministerium auf SZ-Anfrage mit, "die darauf schließen lassen, dass nicht syrische Migranten zunehmend angeben, syrische Staatsangehörige zu sein". Diese ergäben sich aus den Lageerkenntnissen der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex sowie aus den Erfahrungen von Verbindungsbeamten der Bundespolizei. Bei ihren Kontrollen stoße diese "immer wieder" auf gefälschte syrische Dokumente.

"Seinen Pass wegzuwerfen und zu behaupten, man komme aus Syrien, obwohl das nicht stimmt", sei nicht in Ordnung. Das sagte Innenminister Thomas de Maizière vergangene Woche in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Es sei nicht zu viel verlangt, "dass jemand korrekt sagt, wie er heißt und woher er kommt, wenn er bei uns Schutz sucht".

Wie viele falsche Syrer es gibt, ist vollkommen unklar

Wie viele Menschen sich eine falsche syrische Identität zulegen und woher die angeblichen Syrer tatsächlich stammen, ist unklar. Merouane Missaoua, ein marokkanischstämmiger Dolmetscher am Wiener Westbahnhof, erregte einiges Aufsehen mit seiner Einschätzung, bei einem Viertel der ankommenden Menschen handele es sich nicht um Flüchtlinge. Missaoua berichtete dem Deutschlandfunk von zwei Ägyptern, die sich als Syrer ausgaben und ihm von einer einmaligen Gelegenheit erzählten, "nach Europa gratis zu kommen. Es ist jetzt oder nie." Die Zeit zitiert einen syrischen Flüchtling am Salzburger Hauptbahnhof gar mit der Aussage, "nur zehn bis zwölf Prozent der Menschen, die hier sind, sind wirklich Syrer". Viele kämen in Wirklichkeit aus Pakistan oder aus dem Irak. Belege für diese Aussagen gibt es jedoch nicht.

Das Bundesinnenministerium erklärte Mitte September, ihm lägen weder Angaben über die Herkunft angeblicher Syrer vor noch "weitergabefähige Zahlen". Nur wenige Tage später, am Donnerstag, präsentierte Innenminister Thomas de Maizière im ZDF plötzlich doch eine Zahl: Ungefähr 30 Prozent der Flüchtlinge, die behaupteten, aus Syrien zu kommen, stammten in Wahrheit aus einem anderen Land. Ein Sprecher des Ministeriums ergänzte, bei dieser Zahl handle es sich um einen "groben Schätzwert", basierend auf Wahrnehmungen verschiedener nationaler und internationaler Behörden.

"Wer solche Zahlen in die Welt setzt", sagt dazu Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, "muss auch angeben können, wie er zu dieser Schätzung kommt. Der Minister muss das dringend nachholen." Das Phänomen an sich ist für Burkhardt nicht verwunderlich. Er kritisiert eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" unter den Flüchtlingen in Europa, die schon bei der Ankunft auf den griechischen Inseln beginne. Während ein Syrer rasch weiterreisen dürfe, müsse zum Beispiel ein Afghane Wochen oder Monate ausharren. In Deutschland setzten sich die ungleichen Verhältnisse fort. "Aus Sicht der Flüchtlinge ist das eine Diskriminierung", sagt Burkhardt. "Was ist der Unterschied zwischen einem Syrer, der vor dem IS-Terror flieht, und einem Afghanen, der vor den Taliban flieht?"

Ein syrischer Pass für den niederländischen Premier

Zwei Wege sind denkbar, um sich eine falsche syrische Identität zu verschaffen. Die erste Möglichkeit ist ein Pass. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex meldete kürzlich, in der Türkei sei ein gut organisierter Markt für gefälschte syrische Pässe entstanden. Reporter berichten von irakischen Ausweisen, die an der Mittelmeerküste im Müll landeten. Der deutsche Zoll hat Pakete sichergestellt, in denen sich gefälschte, aber auch echte syrische Pässe befanden, wie ein Sprecher des Finanzministeriums Anfang September bestätigte.

Mehrere Journalisten versuchten zuletzt zu beweisen, wie einfach sich jeder eine syrische Identität kaufen könne. Besonderen Sinn für eine gute Geschichte bewies der Niederländer Harald Doornbos. 825 Dollar bezahlte er einem Fälscher, nach zwei Tagen hielt er den Pass in der Hand, ausgestellt auf den Namen Malek Ramadan. Als Passbild wählte Doornbos ein Foto des niederländischen Premierministers Mark Rutte. Der Mann sei sehr hell für einen Syrer, soll der Fälscher angemerkt haben. Er machte sich dann aber doch an die Arbeit.

Kann man mit diesen Ausweisen tatsächlich bis nach Europa reisen? Doornbos hat seinen Pass nicht auf die Probe gestellt, mittlerweile hat er ihn vernichtet. Das Innenministerium hält die Aussichten, mit einem gefälschten Pass bis unter den Schutz des deutschen Asylrechts zu gelangen, für gering. "Viele Passfälschungen", sagt ein Sprecher, "sind einfach nicht besonders gut."

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat von Januar bis Ende August vier Prozent aller Dokumente aus Asylverfahren geprüft und dabei 116 "beanstandete" syrische Pässe festgestellt. Dazu zählen Totalfälschungen ebenso wie Verfälschungen - also der Austausch des Passbildes oder die Überschreibung von Informationen -, aber auch "nichtamtliche Ausstellungen" oder ungültige Pässe. Das Bamf weist darauf hin, dass insgesamt nur vier Prozent der Dokumente aus dem Asylverfahren geprüft würden.

Weitere 118 ge- oder verfälschte Pässe hat die Bundespolizei im ersten Halbjahr 2015 schon bei Grenzkontrollen oder bei der Registrierung der Flüchtlinge aus dem Verkehr gezogen. Davon waren allerdings genau 100 von syrischen Staatsbürgern genutzt worden, nur 18 etwa von Irakern, Ägyptern oder Palästinensern.

Die syrische Nationalhymne reicht nicht

Bleibt der zweite Weg: die Einreise ohne Papiere und der Versuch, mit falschen Angaben bei der Registrierung durchzukommen. Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat glaubt, dass mehr Menschen auf diese Art versuchen, sich als Syrer auszugeben. "Die Tendenz geht weniger dahin, dass jemand sich einen syrischen Pass besorgt, sondern dahin, dass er sagt, er sei Syrer." Doch Zahlen oder genaue Erkenntnisse liegen auch hier nicht vor. Nicht einmal zu der Frage, ob mehr Flüchtlinge in Europa mit oder ohne Papiere ankommen, gibt es Statistiken.

Doch egal, ob mit oder ohne Pass - die Chancen auf eine erfolgreiche Täuschung sind nach Ansicht des Innenministeriums bescheiden. Bei Syrern verzichtet das Bamf im Zuge des beschleunigten Asylverfahrens zwar auf eine persönliche Anhörung (wie auch bei Eritreern und religiösen Minderheiten aus dem Irak); es entscheidet nach Aktenlage. Doch um überhaupt ein beschleunigtes Verfahren zu bekommen, muss ein Antragsteller seine Identität nachweisen.

Viele Syrer besitzen keine gültigen Papiere

Es gebe Flüchtlinge, die die syrische Nationalhymne auswendig lernten oder sich mit der Geografie vertraut machten, um die Behörden zu täuschen. Doch häufig seien es Schlepper, die die Flüchtlinge mit Informationen über ihr angebliches Herkunftsland versorgten - und diese Informationen entsprächen nicht immer der Wahrheit. Prüfer könnten erfundene Fluchtgeschichten mittlerweile häufig erkennen, weil sich zum Beispiel falsche Ortsangaben wiederholten. Ein wichtiger Hinweis für die Behörden ist auch der Dialekt - das Arabisch eines Syrers klingt nicht so wie zum Beispiel das eines Ägypters. Es reiche eben nicht, sagt der Sprecher des Ministeriums, die syrische Nationalhymne zu kennen, um als Syrer eingestuft zu werden.

Doch dass jemand seine syrische Herkunft nicht mit Dokumenten belegen kann, heißt nicht automatisch, dass er lügt. Viele Syrer besitzen keine gültigen Papiere. Ihre Pässe sind abgelaufen, sie haben sie auf der Flucht verloren, oder sie hatten nie welche, wie zahlreiche Kurden, denen Damaskus über Jahrzehnte die Staatsbürgerschaft verweigerte. Die Kunden der Passfälscher, darauf weisen die Zahlen der Bundespolizei hin, scheinen vor allem Syrer zu sein.

Offiziell darf es einem Flüchtling im Asylverfahren nicht zum Nachteil ausgelegt werden, wenn er keinen Pass mit sich führt. Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat befürchtet aber, dass das trotzdem passiert: "In der Praxis steht ein Asylbewerber ohne Pass automatisch unter Verdacht".

Die Bundesregierung sieht in dem Gesetzespaket, das sie als Antwort auf die Flüchtlingskrise vorgelegt hat, auch eine neue Regelung für Flüchtlinge vor, die falsche Angaben über ihre Person machen. Asylbewerber, die nicht abgeschoben werden können, "weil sie falsche Angaben gemacht, über ihre Identität getäuscht oder zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses nicht erfüllt haben", werden finanziell heruntergestuft: Sie erhalten nur noch Leistungen, "die das physische Existenzminimum gewährleisten".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: