Migration:Solidarisch in der Abgrenzung

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Die Europäische Union will Asylverfahren künftig deutlich beschleunigen. Mitgliedsländer sollen einander bei Abschiebungen abgelehnter Bewerber unterstützen. Kritiker befürchten "neue Morias".

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel

Hinter Stacheldraht: Flüchtlingskinder auf der griechischen Insel Lesbos (2020). (Foto: MANOLIS LAGOUTARIS/AFP/MANOLIS LAGOUTARIS/AFP)

Wer erwartet hatte, die EU-Kommission werde mit ihren neuen Vorschlägen zur Asylpolitik genau das vorschlagen, was sie selbst am gerechtesten findet, wurde am Mittwoch eines Besseren belehrt: "Wir stellen hier einen Kompromiss vor, eine 'Landing Zone', mit der wir hoffen, eine Einigung zu ermöglichen", sagte Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas, als er am Mittwoch in Brüssel den Migrationspakt vorstellte. Diesen hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits vor Beginn ihrer Amtszeit angekündigt, seine Vorstellung war dann aber mehrmals verschoben worden.

Die Äußerung des griechischen Christdemokraten zeigt, dass der Wunsch, Migration und Asyl geordnet zu gestalten, für diesen Pakt nur eines von mehreren Zielen ist: Wochenlang seien die Kommissare durch die Hauptstädte gereist, hätten mit "allen Ministern" gesprochen, um diesen Kompromiss auszuloten, so Schinas. Migrationspolitik sei keine Hexerei, sagt die schwedische Innenkommissarin Ylva Johansson auf den Vorwurf, der neue Pakt enthalte viel Altbekanntes. Bislang habe aber ein gemeinsamer Ansatz gefehlt. "Wir glauben, dass Parlament und Mitgliedstaaten sagen werden, dass der Vorschlag es wert ist, mit ihm weiterzuarbeiten. Das ist neu."

Am sensibelsten ist nach wie vor die Frage, wie Migranten auf die Mitgliedstaaten verteilt werden

Der Plan, der diese Zusammenarbeit ermöglichen soll, ist komplex: Er enthält zehn neue Gesetzesvorschläge, dazu Änderungen an fünf Gesetzen, die die Kommission bereits unter ihrem früheren Präsidenten Jean-Claude Juncker vorgeschlagen hatte. Im Mittelpunkt stehen drei Elemente: Asylverfahren an der Grenze sollen beschleunigt und mehr Menschen schneller abgeschoben werden. Außerdem will die Kommission ein neues System der Solidarität unter den Mitgliedstaaten etablieren - bei dem Solidarität auch bedeuten kann, anderen Ländern beim Zurückbringen abgelehnter Asylbewerber zu helfen.

Nach den Vorstellungen der EU-Kommission soll künftig bereits an den Außengrenzen entschieden werden, welche Migranten ein klassisches Asylverfahren durchlaufen - und welche ein sogenanntes Grenzverfahren, das dafür neu etabliert werden soll. Die Grenzverfahren, die maximal zwölf Wochen dauern sollen, sind demnach für solche Migranten gedacht, deren Asylantrag mit Blick auf die Anerkennungsquoten für Bewerber aus dem jeweiligen Land von vorneherein geringe Aussicht auf Erfolg haben.

Diese grundsätzliche Entscheidung soll innerhalb von fünf Tagen nach der Ankunft bei einem der Einreise vorgelagerten Screening getroffen werden - und kann als solche auch nicht rechtlich überprüft werden, wie Kommissionsbeamte sagen. Erst im eigentlichen Asyl- oder Abschiebeverfahren stünden den Betroffenen Rechtsmittel zur Verfügung.

Asylexperten hatten schon vorab die Befürchtung geäußert, dass Ankommende während ihrer Grenzverfahren vermutlich in geschlossenen Unterkünften warten müssten. "Wir schlagen keinen Arrest vor", sagt Kommissarin Johansson. Er sei aber auch nicht verboten, etwa wenn die Gefahr bestehe, dass sich Migranten dem Verfahren entziehen könnten. Faktisch dürfte das häufig der Fall sein, zumal bei Menschen, die auf ihre Abschiebung warten.

Am sensibelsten ist für die Mitgliedstaaten jedoch nach wie vor die Frage, wie die Migranten auf die EU verteilt werden sollen. Die besonders umstrittene Dublin-Verordnung zieht die Kommission nun zwar zurück - sie sei für eine andere Zeit gemacht gewesen und werde den heutigen Gegebenheiten nicht gerecht, sagte Schinas. Der neue Mechanismus wird aber kein gänzlich anderer sein: Auch künftig ist im Grundsatz jenes Land zuständig, in dem ein Asylbewerber zuerst den Boden der EU betritt, auch wenn die Fälle, in denen andere Länder für konkrete Asylbewerber zuständig sind, ausgeweitet werden sollen. Bislang führte dieses System dazu, dass Länder wie Griechenland oder Italien für einen Großteil der Verfahren verantwortlich waren. Die neuen Vorschläge sollen diesen Staaten nun trotzdem "die Sicherheit geben, dass ihre Bitten um Solidarität erfüllt werden, und dass sie nicht alleingelassen werden, so wie das heute der Fall ist", sagt Schinas.

Die Grünen fürchten, das Verfahren werde zu "neuen Morias" führen

Um das zu erreichen, sollen betroffene Länder einen Solidaritätsmechanismus aktivieren können. An der dann einsetzenden Unterstützung müssen sich nach den Plänen der EU alle Länder beteiligen - aber nicht zwingend nur dadurch, dass sie selbst Menschen bei sich aufnehmen. Es gehe um das "wie", nicht um das "ob", wie Ursula von der Leyen am Mittwoch sagte. Das ist eine deutliche Änderung im Vergleich zu den Vorschlägen, mit denen ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker 2016 auf die Flüchtlingskrise reagierte, und die damals für "Wunden" sorgten, die "heute noch fühlbar" seien, wie Schinas sagt, der damals Junckers Sprecher war. Stattdessen sollen Mitgliedstaaten ihren Beitrag auch dadurch leisten können, dass sie sich bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber beteiligen. Auf die Frage, ob das nicht dazu führen werde, dass alle Länder lieber bei den Abschiebungen helfen, statt selber Menschen aufzunehmen, sagt Kommissarin Johansson, beides werde gebraucht. Die EU sei bislang "nicht gut" darin, Menschen wegzuschicken: Bislang werden in der EU nur etwa ein Drittel der abgelehnten Asylbewerber auch abgeschoben.

Aus dem EU-Parlament und von Experten kamen nach der Vorstellung des Paktes am Mittwoch überwiegend kritische Reaktionen. Die Vorschläge seien ein "Schritt in die richtige Richtung", lobt zwar die migrationspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Abgeordneten, Lena Düpont. Es sei richtig, unterschiedliche Möglichkeiten der Solidarität zu eröffnen. Die Grünen dagegen fürchten, der Vorschlag der Kommission werde das Modell der griechischen Lager perpetuieren, wie deren flüchtlingspolitischer Sprecher Erik Marquardt sagt: "Grenzverfahren werden zu neuen Morias führen." Die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel kritisiert: Der Ansatz, es allen Mitgliedstaaten recht zu machen, "kann unseren Werten, unseren humanitären und rechtlichen Verpflichtungen nicht gerecht werden". Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, spricht gar von einem "teuflischen Pakt der Entrechtung".

Insofern hat Kommissarin Johansson ein Versprechen, das sie vorab für ihren Pakt gegeben hat, schon gehalten: "Niemand wird mit unseren Vorschlägen zufrieden sein."

© SZ vom 24.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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