Nach der tödlichen Messerattacke von Solingen hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schnelle Gespräche mit den Ländern und der Union über ein Umsteuern in der Migrations- und der Sicherheitspolitik angekündigt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) werde rasch Vertreter der Bundesländer und der Union zu vertraulichen Gesprächen über die Konsequenzen aus dem Anschlag einladen, sagte Scholz. „Wir werden nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir werden Lehren ziehen“, sagte er nach einem Treffen mit dem britischen Premierminister Keir Starmer in Berlin. Nach einem Angebot von CDU-Chef Friedrich Merz vom Vortag, mit der Union und notfalls auch ohne die Ampelpartner Grüne und FDP die Migrationspolitik zu verschärfen, ist Scholz erkennbar bemüht, die politische Initiative in der Hand zu behalten.
Für den Kanzler geht es nun darum, das Angebot des Oppositionsführers nicht rundheraus auszuschlagen, zugleich aber auch die Handlungsfähigkeit seiner in vielen Fragen zerstrittenen Koalition unter Beweis zu stellen – zumal am Sonntag sowohl in Thüringen als auch in Sachsen Landtagswahlen anstehen. So machte Scholz erneut deutlich, dass ihm die bislang beschlossenen Maßnahmen zur Begrenzung der Migration nicht reichen. Die Zahlen der irregulären Migration seien längst nicht so gesunken, wie auch er sich dies wünsche. „Deshalb wird die Bundesregierung ihre Bemühungen fortsetzen, die irreguläre Migration weiter zu begrenzen“, kündigte Scholz an. Die Bundesregierung berate nun weitere gesetzliche Maßnahmen, etwa beim Waffenrecht, der Bekämpfung des islamistischen Terrors und bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wird in der Ampel-Koalition bereits intensiv über ein weitreichendes Papier diskutiert. Demzufolge könnten die Leistungen für Geflüchtete stark gekürzt oder ganz gestrichen werden, wenn sie über ein anderes EU-Land eingereist sind und dort registriert wurden. In solchen Dublin-Fällen könnten Geflüchtete künftig nur noch die nötigsten Sachleistungen bekommen, aber kein Bargeld mehr und auch keine Bezahlkarte. Hat ein anderes EU-Land der Aufnahme zugestimmt, könnten die Leistungen sogar komplett gestrichen werden, um Betroffene zur Ausreise zu bewegen. Beim Einsatz von Waffen könnten Geflüchtete den Plänen zufolge leichter ausgewiesen werden.
Diskutiert wird auch über neue Polizeibefugnisse. So könnte die Koalition der Bundespolizei, die für die Sicherheit an Bahnhöfen zuständig ist, verdachtsunabhängige Kontrollen ermöglichen und damit die Suche nach Waffen erleichtern. Auch das von Faeser vorgeschlagene Verbot von Messern mit langer Klinge wird weiter diskutiert. Noch seien jedoch viele Punkte nicht geeint, heißt es. Zuerst hatte die Bild-Zeitung über mögliche Verschärfungen berichtet.
Die Grünen stellten eine rasche eigene Entscheidung der Koalition in Aussicht. „Wir werden selbstverständlich eigene Vorschläge für mehr Sicherheit in Deutschland unterbreiten, und Herr Merz ist herzlich eingeladen, sich mit konstruktiven Vorschlägen im parlamentarischen Verfahren zu beteiligen“, sagte Irene Mihalic, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, der Süddeutschen Zeitung. Die Menschen hätten genug von „dieser spaltenden Rhetorik“. Sie forderten Lösungen.
Auch die FDP zeigt sich offen für Gespräche mit der Union
Grünen-Fraktionsvizechef Konstantin von Notz ging mit Merz hart ins Gericht. „Es ist geradezu unpatriotisch, nun das Land als am Rande des Abgrunds stehend zu beschreiben und eine vermeintliche Notlage heraufzubeschwören“, sagte er der SZ. „Statt in eine solche Panikmache und parteipolitisches Klein-Klein zu verfallen, müssen wir als Demokratinnen und Demokraten entschlossen gegen den IS und andere Demokratieverächter zusammenstehen und sicherheitspolitische Defizite gemeinsam schnellstmöglich abstellen. Wir warten weiterhin auf konkrete Vorschläge der Union.“
„Das Unsicherheitsgefühl der Menschen ist groß“, sagte Lamya Kaddor, innenpolitische Sprecherin der Grünen, der SZ. Mit einer verschärften Aufnahmepolitik allein aber sei die Gefahr des Islamismus noch lange nicht gebannt. „Da muss mehr passieren“, betonte sie. Dies müsse aber „auf Grundlage von Recht und Gesetz“ passieren, sagte Kaddor.
Die FDP zeigte sich offen für Gespräche auch mit Merz, forderte aber auch mehr Selbstkritik der Union. „Ich halte eine Zusammenarbeit mit der Union für richtig, denn der Fall Solingen zeigt wie kein anderer, dass eine bessere Kooperation der Mitte-Parteien dringend notwendig ist“, sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr der SZ. Dazu müssten die Christdemokraten aber auch eigene Fehler eingestehen: „Der CDU-Regierung in Nordrhein-Westfalen ist es nicht gelungen, einen Mann abzuschieben, der nicht mehr in Deutschland hätte sein dürfen“, sagte Dürr. Mit Blick auf die Regierungszeit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte er: „Es ist gut, dass die CDU sich jetzt von der Migrationspolitik aus ihrer alten Regierungszeit verabschiedet.“ Damit der Kurswechsel gelinge, schlage er „einen Pakt der demokratischen Mitte im Bund und in allen 16 Ländern vor“, sagte Dürr.
Der Vorstoß von Merz zielt auf eine Spaltung der Ampelkoalition ab, weil Initiativen über die Köpfe der Partner hinweg fast unausweichlich zum Bruch des Bündnisses führen würden. Merz hatte überdies gefordert, der Regierungschef solle eine Person bestimmen, die mit der Union über die Migrationspolitik verhandelt. Ein Verhältnis von eins zu eins entspricht nicht den Kräfteverhältnissen im Bundestag, wo die Ampel mehr als doppelt so viele Abgeordnete, wie die Union hat. Zu den Forderungen von Merz gehört, notfalls eine nationale Notlage zu beschließen, um Grenzen auch gegen EU-Regeln schließen zu können. Verhindern will er den weiteren Zuzug von Menschen aus Afghanistan und Syrien. Scholz machte im Gegenzug klar, dass das im Grundgesetz verankerte individuelle Asylrecht erhalten und internationale wie europäische Regeln eingehalten werden müssten.