Mittelmeer:Schwere Vorwürfe gegen Europas Flüchtlingspolitik

Mittelmeer: Nordwärts: Ein Rettungsboot der "Sea-Watch 3" nähert sich im Februar 2021 im Mittelmeer einem Boot mit 97 Migranten.

Nordwärts: Ein Rettungsboot der "Sea-Watch 3" nähert sich im Februar 2021 im Mittelmeer einem Boot mit 97 Migranten.

(Foto: David Lohmueller/dpa)

Der Europarat beklagt, auf den Routen über das Mittelmeer würden die Menschenrechte systematisch ignoriert. Das verursache jedes Jahr Tausende vermeidbare Tode.

Von Tobias Zick

Es sind massive Vorwürfe, die die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, erhebt. Die europäische Migrationspolitik, schreibt sie in einem heute vorgestellten Bericht, den die SZ vorab einsehen konnte, "verursacht jedes Jahr Tausende vermeidbare Tode". Der Umgang der Europäer mit Flüchtlingen und Migranten, die versuchen, den Kontinent über das Mittelmeer zu erreichen, sei "eines der eklatantesten Beispiele dafür, wie schlechte Migrationspolitik Menschenrechte untergräbt", so Mijatović. Es bestehe "dringender Handlungsbedarf".

Im Juni 2019 hatte Mijatović bereits einen Katalog an Empfehlungen dafür zusammengetragen, wie die Mitgliedsstaaten des Europarats den Umgang mit Migranten auf den verschiedenen Mittelmeerrouten "endlich in Einklang mit ihren eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen und den Werten, denen sie sich verschrieben haben, bringen können". Seither habe es durchaus einige Fortschritte gegeben, schreibt die Kommissarin jetzt in ihrem Bericht mit dem Titel "Ein Hilferuf für die Menschenrechte". Alles in allem aber bleibe die Menschenrechtslage im Mittelmeer "kläglich". Der Europarat ist eine von der Europäischen Union unabhängige Organisation, der insgesamt 47 Staaten angehören, etwa auch Russland und die Türkei.

Laut Aufzeichnungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind von Mitte 2019 bis Ende 2020 mehr als 2600 Menschen im Mittelmeer durch Schiffbruch umgekommen - wobei, wie Mijatović schreibt, die Dunkelziffer viel höher sein dürfte, schließlich fehle es an angemessenen Such- und Rettungskapazitäten. Diese seien in dem untersuchten Zeitraum eher noch zurückgegangen. Zum einen hätten Staaten in der Region keine zusätzlichen Rettungsschiffe bereitgestellt und ihre Operationen, auch mit Verweis auf Covid-Schutzmaßnahmen, eher noch zurückgefahren. Zum anderen seien nichtstaatliche Hilfsorganisationen teilweise an ihrer Arbeit gehindert worden.

Es sei, als habe Europa seine Vergangenheit vergessen

Aus Sicht der Kommissarin drängt sich der Eindruck auf, dass auf diese Weise Boote gezielt in die Hände der libyschen Küstenwache getrieben werden sollten - den Behörden eines Landes, in dem Migranten systematisch erpresst und gefoltert werden.

Die Menschenrechtslage im Mittelmeer sei auch deswegen so verheerend, schrieb die Kommissarin bereits Mitte 2019, weil es an sicheren und legalen Wegen nach Europa mangele. So würden Migranten in die Hände von Schleppern und Menschenhändlern getrieben. Das wichtigste Gegenmittel seien legale Umsiedlungen anerkannter Flüchtlinge, und da habe es seither immerhin einen "zarten Aufwärtstrend" gegeben, berichtet Mijatović jetzt. Als Positivbeispiel nennt sie die Umsiedlungen von Flüchtlingen aus Griechenland in andere EU-Länder in der zweiten Jahreshälfte 2020. Allerdings seien diese Fortschritte "fragil". So haben etwa die Niederlande einen Teil ihrer zugesagten Umsiedlungsquoten nachträglich wieder reduziert.

Die Anrainerstaaten des Mittelmeers seien zwar am direktesten betroffen, und sie seien diejenigen, die meist die Maßnahmen veranlassen, welche die Rechte von Flüchtlingen und Migranten verletzten. Allerdings trügen auch jene Mitgliedstaaten, die solche Maßnahmen stillschweigend dulden oder aktiv unterstützen, eine Verantwortung. Es sei, "als hätten wir im Europa des 21. Jahrhunderts unsere Vergangenheit vergessen", schreibt Dunja Mijatović: Schließlich hätten "vor siebzig Jahren Hunderttausende von uns darauf gewartet, nach dem Zweiten Weltkrieg in die Heimat zurückgeschickt oder umgesiedelt zu werden. Und Tausende neuer Flüchtlinge entkamen durch den Eisernen Vorhang. Millionen überquerten den Ozean auf der Suche nach Möglichkeiten, die Bedürfnisse ihrer Familien zu stillen."

Anstatt sich der daraus resultierenden historischen Verantwortung zu stellen, so die Menschenrechtskommissarin, hätten sich europäische Länder zuletzt einen "Wettlauf nach unten" darin geliefert, "schutzbedürftige Menschen außerhalb unserer Grenzen zu halten, mit schrecklichen Folgen".

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