Migration:Merkel reist den Flüchtlingen entgegen

European Union Heads of State Meet To Weigh Up Brexit Policy Initiatives

Kanzlerin Merkel reist erstmals in das verarmte afrikanische Land Niger.

(Foto: Bloomberg)
  • Am Montag reist Kanzlerin Merkel erstmals nach Niger. Sie will verhindern, dass noch Millionen Menschen aus Afrika nach Europa kommen.
  • Außerdem wird Merkel noch nach Äthiopien und Mali reisen.
  • Die Kanzlerin setzt sich damit an die Spitze einer Bewegung zur Verminderung der Flüchtlingsströme.

Von Nico Fried

Es ist eine Reise, die sich Angela Merkel selber wohl vor Kurzem noch nicht hätte vorstellen können. Die Kanzlerin fliegt am Montag in ein Land, in dem Helmut Kohl 1995 einmal zwischengelandet ist, aber sonst noch keiner ihrer Vorgänger war. Niger ist so arm, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland seit der staatlichen Unabhängigkeit vor allem aus dem Empfang von Entwicklungshilfe bestanden, 800 Millionen Euro in den vergangenen etwas mehr als 60 Jahren. Im Human Development Index, einem Wohlstandsindikator der Vereinten Nationen, findet sich Niger konstant auf Rang 188. Das ist der letzte Platz. Das Land liegt geografisch im Nordwesten Afrikas, aber wirtschaftlich am Ende der Welt.

Binnen kurzer Zeit hat Niger für Europa gleichwohl gewaltig an Bedeutung gewonnen und erfährt plötzlich erhöhte Aufmerksamkeit: Der Wüstenstaat ist ein Schlüsselland für die Flüchtlingspolitik. Und das nicht etwa, weil von hier besonders viele Migranten stammten, die den Weg über das Mittelmeer nach Europa suchen - die meisten Menschen in Niger sind selbst für eine Flucht aus dem Elend noch viel zu arm. Doch durch das Wüstenland führt eine der wichtigsten Routen für Migranten aus dem zentralen Afrika in Richtung Norden. Die Stadt Agadez passieren pro Jahr 150 000 Menschen.

Merkel will diesem Problem nun begegnen - im Wortsinne. Damit die Menschen nicht nach Deutschland drängen, fliegt die Kanzlerin zu ihnen, ein Entgegenkommen der besonderen Art: am Sonntag erst mal nach Mali, dann nach Niger, schließlich nach Äthiopien. Danach empfängt Merkel noch die Präsidenten aus Nigeria und Tschad in Berlin.

Wenn man Merkel noch vor knapp zwei Jahren auf die anschwellende Migration aus Afrika ansprach, war sie aufrichtig ratlos. Das Problem war ihr bewusst, eine Lösung sah sie nicht im Ansatz. Die Menschenströme über das Mittelmeer waren damals eine Sorge der Südeuropäer. Die Strukturen einer fehlerhaften europäischen Flüchtlingspolitik, die Merkel rückwirkend inzwischen vehement kritisiert, boten auch ihr damals noch eine Entschuldigung dafür, sich erst einmal um anderes zu kümmern. Dieses Versäumnis räumt die Kanzlerin heute selbst ein.

Nach den vergangenen Monaten einer innen- , europa- und außenpolitisch wahrlich einzigartigen Erfahrung mit rund einer Million Flüchtlingen im eigenen Land - vor allem aus Syrien - hat sich das geändert. Die Migrationskrise ist nicht nur zum dominierenden Thema von Merkels Regierung geworden. Um ihr Versprechen zu halten, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen werde, will Merkel nun auch die Zusammenarbeit mit Afrika verstärken, wo das Potenzial an Migranten sich in mehreren Millionen bemisst.

SZ-Grafik;

SZ-Grafik; Quellen: IOM, UNHCR, Frontex, eurostat; Stand: Jan. bis Aug. 2016

Vor dem Bundesverband der Deutschen Industrie referierte Merkel in dieser Woche über die Dimension der Herausforderung: Niger zum Beispiel sei eines der Länder mit dem jüngsten Durchschnittsalter der Bevölkerung, 15,2 Jahre im Vergleich zu 44,9 in Deutschland. Das Bevölkerungswachstum liege bei 2,9 Prozent pro Jahr. Das Land könne seinen Kindern Schulbildung bestenfalls bis zum elften Lebensjahr bieten. "Es kann nicht sein, dass uns das nicht interessiert", so die Kanzlerin.

Merkel setzt sich also an die Spitze einer Bewegung zur Verminderung der Flüchtlingsströme in Afrika. Eine Massenbewegung ist das allerdings nicht. Deutschland, Italien und Frankreich treiben sogenannte Migrationspartnerschaften mit den nordafrikanischen Staaten voran. Italien, weil die Flüchtlinge, die nicht im Mittelmeer ertrinken, fast alle dort ankommen. Frankreich, weil Niger zum traditionellen Einflussgebiet der ehemaligen Kolonialmacht zählt. Der Rest der Europäer schaut interessiert zu. Auf einem europäisch-afrikanischen Gipfel im November 2015 auf Malta beschlossen die Staats- und Regierungschefs zwar einen Aktionsplan. Fragt man aber im Kanzleramt nach den Fortschritten, lautet die Antwort: "Es ist in der Tat so, dass das alles - wie bei vielen EU-Projekten - sehr langsam geht." Im Juni 2016 beklagte der nigrische Präsident Mahamadou Issoufou, zu Besuch bei Merkel in Berlin, dass die zugesagten Mittel zum Aufbau von Auffangzentren für Flüchtlinge nicht flössen.

Einerseits sind die Belastungen für das Land hoch, finanziell, aber auch menschlich: So starben erst am Donnerstag 22 Soldaten bei einem Angriff mutmaßlicher Dschihadisten auf ein Flüchtlingslager nahe der Grenze zwischen Mali und Niger. Andererseits sind die Umsätze, die illegale Schlepper mit dem Schleusen der Flüchtlinge durch Niger erzielen, eine wichtige Einnahmequelle. "Wenn man jetzt dazu käme, dass das von heute auf morgen gestoppt würde", heißt es nüchtern in Regierungskreisen, "dann hätte auch das wirtschaftliche Folgen". Deshalb sei die Situation "nicht so einfach".

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