Großbritannien:Mitte-Links-Migrationspolitik im Live-Experiment

Lesezeit: 4 Min.

Migranten hoffen an der französischen Küste auf die Chance, den Ärmelkanal mit einem kleinen Schlauchboot zu überwinden. Für viele endet das tödlich. (Foto: Bernard Barron/DPA)

Die Labour-Regierung sucht nach einem Umgang mit Flüchtlingen, der die Wähler nicht an den rechten Rand treibt. Dabei setzt sie auch auf mehr europäische Kooperation, wie sich beim Besuch von Innenministerin Faeser in London zeigt.

Von Michael Neudecker, London

Am Mittwoch vergangener Woche waren es wieder 289, zusammengepfercht in sechs kleinen Booten. 289 Menschen, die an diesem Tag versuchten, über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen, auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung oder anderem Unheil in ihrer Heimat. Nach Zählung des britischen Innenministeriums ist die Zahl der über den Ärmelkanal Angekommenen damit in diesem Jahr auf knapp 34 000 gestiegen, rund elftausend weniger als im bisherigen Rekordjahr 2022, aber auch rund fünftausend mehr als im vergangenen Jahr. 34 000 Menschen, die in der Statistik als illegal migrants vermerkt werden, also: 34 000 Problemfälle.

Als die Konservativen das Vereinigte Königreich regierten, war eines der fünf wichtigsten Ziele des damaligen Premierministers Rishi Sunak, diese sogenannten small boat crossings zu stoppen. Seit Anfang Juli stellt die Labour-Partei die Regierung in London, damit hat sich der Fokus in der britischen Migrationspolitik etwas verändert. Dokumentiert ist dies in den six milestones, die Starmer vor ein paar Tagen vorstellte: sechs Meilensteine, mit denen er seine künftige Regierungsarbeit definieren will. Es geht darin um bessere Lebensstandards, mehr Wohnungsbau, eine Reform des Gesundheitssystems und anderes. Ausdrücklich nicht erwähnt ist: Migration.

Starmer will Flüchtlinge nicht als Grundsatzproblem darstellen

Starmer versucht, die dem Land jahrelang vorgetragene Tory-Rhetorik aufzuweichen, indem er keine konkreten Zahlen als Ziele nennt; zumal er Zahlen beim Thema Migration für unrealistisch hält. Starmer spricht zwar oft von „sicheren Grenzen“, für die er sorgen wolle, achtet aber darauf, Flüchtlinge nicht als Grundsatzproblem für das Wohl des Landes darzustellen. Den von Sunak verfolgten Plan, einige der sogenannten illegalen Flüchtlinge nach Ruanda abzuschieben, stornierte Starmer schon kurz nach dem Regierungswechsel. Stattdessen setzt die Labour-Regierung auf mehr Kooperation mit den europäischen Nachbarn.

Am Dienstag empfing Innenministerin Yvette Cooper ihre Kolleginnen und Kollegen der „Calais Group“ in London, das ist ein Zusammenschluss aus Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich mit dem Fokus Migrationspolitik. Dabei vereinbarten Cooper und ihre deutsche Amtskollegin Nancy Faeser eine engere Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern. Unter anderem geht es um eine Gesetzeslücke, die man je nach Perspektive entweder als problematisch oder als in der Praxis eher irrelevant betrachten kann.

Vertreter der Calais-Gruppe und weitere Fachleute in London (v.li.): Frankreichs Innenminister Bruno Retailleau, Belgiens Migrationsministerin Nicole de Moor, Belgiens Innenministerin Annelies Verlinden, Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser, Großbritanniens Innenministerin Yvette Cooper, die niederländische Migrationsministerin Marjolein Faber, Beate Gminder von der Europäischen Kommission, Uku Särekanno von Frontex und Alfredo Nunzi von Europol. (Foto: Henry Nicholls/AFP)

Das Schleusen von Geflüchteten aus der EU heraus in Drittstaaten ist formal gesehen nicht illegal, allerdings gab es keine solchen nennenswerten Fälle, bis das Vereinigte Königreich aus der EU austrat. Seit Inkrafttreten des Brexits Anfang 2020 ist Großbritannien ein Drittstaat, das heißt, wer aus Deutschland Menschen auf illegale Weise in das Vereinigte Königreich schleust, begeht streng genommen nach deutschem Recht keine Straftat. Nur, so versuchte der deutsche Botschafter Miguel Berger am Dienstag im BBC-Radio zu erklären, führten diese Wege„ ja immer durch Belgien, Frankreich oder die Niederlande, also durch ein EU-Land“, und das wiederum ist illegal.

Allein dieses Jahr sind mehr als 70 Flüchtlinge vor der britischen Küste ertrunken

Am Dienstagnachmittag sagte Innenministerin Nancy Faeser auf die Frage, ob Deutschland wie in manchen britischen Medien beschrieben nun seine Gesetze stärke, sie habe ja „in der Vergangenheit schon die Gesetze verschärft, wir haben zum Beispiel den Strafrahmen nach oben gesetzt“, alles Weitere werde „geprüft“. Geprüft heißt hier allerdings auch „gewählt“; schon im Februar wählt Deutschland eine neue Regierung, und die Umfragen deuten eher darauf hin, dass das Innenministerium im kommenden Jahr unter einer anderen Führung stehen könnte.

Zusätzlich zum Abkommen zwischen Deutschland und Großbritannien beschloss die Calais-Gruppe am Dienstag einen Aktionsplan mit fünf Prioritäten. „Diese widerliche Form der organisierten Kriminalität“, wie Faeser formulierte, solle künftig stärker bekämpft werden, etwa durch eine bessere Kommunikation in den betroffenen Ländern auf dem Balkan, in Asien, Afrika und dem Nahen Osten oder auch durch eine Koordination der Strafverfolgung durch Europol. Auch über Social-Media-Plattformen sollen Schleuser aufgespürt werden, zudem soll ein stärkerer Datenaustausch stattfinden.

Die Schleusungskriminalität sei seit Jahren ein Problem für Großbritannien und die EU, sagte die britische Innenministerin Cooper, „das kann so nicht weitergehen“. Allein in diesem Jahr sind mehr als 70 Menschen beim Versuch, über die gefährlichen Strömungen und Wellen im Ärmelkanal ans britische Ufer zu gelangen, ums Leben gekommen. Cooper gilt in ihrer Partei eher als Hardlinerin, politisch deutlich näher der Mitte als dem linken Flügel. Sie hat allerdings wie ihr Chef Keir Starmer mit dem Problem zu kämpfen, dass Worte wie „Abkommen“, „Aktionsplan“ und „Kooperationsvorhaben“ so langweilig klingen, dass sie den Wählern schwer vermittelbar sind.

Das Wahlsystem hat das Land bisher vor einem Rechtsruck bewahrt

Immerhin hat das Wahlsystem das Land bisher vor einem Rechtsruck bewahrt, Keir Starmers Labour-Partei hält 402 der 650 Sitze im Unterhaus. Kein anderes großes europäisches Land hat derzeit so stabile politische Verhältnisse wie das Vereinigte Königreich.

Ob die Stabilität hält, das dürfte künftig allerdings auch damit zusammenhängen, wie die Flüchtlingsdebatte geführt wird, und welche Antworten die neue Regierung findet. Keir Starmers Labour-Regierung ist zu einer Art Live-Experiment vor aller Augen gezwungen: eine Mitte-Links-Migrationspolitik zu finden, die so funktioniert, dass sie die Wähler nicht an den rechten Rand treibt.

Noch ist Starmers eher auf Unaufgeregtheit ausgelegter Ansatz eine undurchsichtige Flüssigkeit im Reagenzglas, von der man nicht weiß, ob sie explodiert oder zu etwas Gutem führt. Im ersten Halbjahr ist die Labour-Regierung nicht unbedingt durch klare Kommunikation aufgefallen, weshalb Starmer zuletzt sein Kernteam in Downing Street noch einmal umstellte.

Wie schwierig die Sache mit der klaren Kommunikation sein kann, zeigte sich kürzlich, als vom Plan mit den sechs Meilensteinen vorab in der Sunday Times zu lesen war: Der sei in einem Hinterhof „bei Tequila“ entstanden, schrieb das Blatt. Labour-Mann Pat McFadden, einer der engsten Vertrauten Starmers, korrigierte kurz darauf bei einer Rede amüsiert, er habe irritiert bei der Zeitung angerufen, der Reporter habe dann seine Aufnahme des Gesprächs mit seiner Quelle noch mal angehört und sich entschuldigt. Ja, er habe sich tatsächlich verhört. Die Quelle habe nicht „Tequila“ gesagt, sondern: Der Plan komme nun „to Keir“.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusSeenotrettung
:„Was die CDU da fordert, ist krass völkerrechtswidrig“

Die Union setzt deutsche Seenotretter im Mittelmeer unter Druck. In Konstanz hat die CDU einen besonderen Einfall: Die Organisation Sea-Eye soll gerettete Migranten zurück nach Afrika bringen – sonst werde ihr das Geld gestrichen. Doch die NGO wehrt sich.

Von Marc Beise und Roland Muschel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: