Migration gegen den Trend:Transsilvanischer Diamant

Regele Ferdinand Street Cluj Napoca Transylvania Romania Europe PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY

Die Barockpracht hat die Sowjetzeit überlebt: Cluj ist ein Anziehungspunkt für Touristen – aber auch für italienische Auswanderer.

(Foto: Marco Cristofori/imago/robertharding)

Weil so viele Rumänen ausgewandert sind, fehlen dem Land Arbeitskräfte. In diese Lücke springen immer mehr Italiener.

Von Francesca Paci, La Stampa

Fabio Marini wickelt sich in seine schwarze Daunenjacke, die man hier auch im Mai noch braucht, und zeigt auf die Tankstelle mit Waschanlage, die er übernommen hat. Wir sind ein paar Schritte von der Innenstadt von Cluj entfernt, dem einstigen Klausenburg, bekannt aus Bram Stokers "Dracula". Wie kommt der Italiener nach Transsilvanien? "Ich habe in Terni als Messtechniker im Bau gearbeitet, aber mit 26, nach der Krise von 2008, verlor ich meine Stelle." Deshalb kam er mit seiner rumänischen Frau Cristina hierher, in die Stadt, in der sie geboren wurde. Kennengelernt haben die beiden sich im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms in Italien. "Wir verdienen mindestens 1500 Euro, wir arbeiten beide und leben gut", sagt er zufrieden.

Seit fünf Jahren wächst die Zahl der Italiener stetig, die in die rumänische Stadt auswandern, deren Barockpracht die Sowjetzeit überlebt hat, und wo die Arbeitslosigkeit offiziell bei 1,3 Prozent liegt. Sie arbeiten in italienischen Großunternehmen, die hier eine Filiale haben. Oder sie sind Buchhalter, Elektriker, Zimmerleute, Telefonisten. Im Italienischen nennt man die Akademiker-Abwanderung "Flucht der Hirne" - hierher flüchten mehr die Hände, sie sind eine sehr gefragte Mangelware.

"Der Bürgermeister hat alles getan, um EU-Fördermittel zu nutzen, der öffentliche Dienst funktioniert, die Baustellen mehren sich", sagt der Elektriker Pier Giorgio Fontana. Der 53-Jährige hatte ein kleines Photovoltaik-Unternehmen in der Emilia Romagna. Dort, in Faenza, hatte er vor gut zehn Jahren eine Ingenieurin aus Cluj als Praktikantin. Als sie nach Rumänien zurückkehrte, fing sie an, Aufträge an Land zu ziehen, offenbar mit Erfolg. Pier Giorgio Fontana zog hinterher - und blieb. Viele Italiener, so schätzt die örtliche Arbeitsvermittlung, kommen, weil es in Rumänien einen größeren Arbeitsmarkt gibt. Der Mindestlohn beträgt 470 Euro, ein mittleres Gehalt liegt bei 630 Euro. In Südeuropa verdienen viele Leute auch nicht mehr. Die Lebenshaltungskosten sind aber in Rumänien erheblich geringer.

Transsilvanien ist der Diamant eines Rumäniens, das wächst, aber noch nicht da angekommen ist, wo es hinwill. Es ist ein Land mit 19 Millionen Einwohnern. Fünf Millionen sind ins Ausland gegangen. Deshalb gehen dem Land die Arbeitskräfte aus. "Es fehlen Leute zum Aufbau der Infrastruktur", sagt der rumänische Pfarrer Claudio Tutu, 39, von der griechisch-katholischen Pfarrei Gruja. Sie ist Treffpunkt einer Gemeinschaft von 200 000 Menschen, die unter dem kommunistischen Diktator Ceauşescu verfolgt wurden. Claudio Tutu und seine Frau Melinda, eine Anwältin, haben beide mehrere Uniabschlüsse in Italien gemacht. Viele Türen standen ihnen offen, aber sie sind zurückgegangen nach Rumänien, weil "wir Träume haben". "Seit 2015 kommen jedes Jahr mindestens zehn Schüler mit ihren Familien aus Italien zurück", bestätigt Alina Baraian, Direktorin des Gymnasiums George Baraian.

In den Fluren der Schule hört man Mundarten des Veneto, der Emilia Romagna, der Marken. Es sind Kinder eines Europas ohne Grenzen, in dem man leicht von einem Land ins andere wechseln kann, was "wir nie für eine Selbstverständlichkeit halten sollten", wie der 16-jährige Dragos Lazaruk sagt. Die blaue Fahne mit den zwölf Sternen weht in Cluj über vielen Gebäuden. Es ist keine Sympathie für Moskau zu spüren, nur wenig für die USA - aber viel für Europa. Die Italiener, auch die mit Heimweh, fühlen sich wohl.

Der Boom in Rumänien erinnert an die goldene Zeit Italiens

Die "Hände auf der Flucht" sind meistens Männer. Viele gründen in Rumänien eine Familie. Aber auch Studenten kommen hierher. Es gibt zehn Universitäten in der Stadt. Vor allem die Fächer Medizin und Zahnmedizin sind bei Italienern beliebt, und zwar nicht, weil das Studium leicht wäre, wie Gianvito Robertini sagt. "Man muss Rumänisch lernen, aber es gibt keinen Numerus clausus, und der praktische Anteil am Studium ist hoch."

Massimo Novali ist seit einem halben Jahr italienischer Honorarkonsul, er ist ein Veteran in Cluj, der in den 1990er-Jahren kam, um in Möbel und Antiquitäten zu investieren. Er hat einen Termin nach dem anderen. Nach amtlichen Angaben leben 1046 Italiener in Cluj, aber Novali ist überzeugt, dass die Zahl viermal so hoch ist: "Ich treffe jede Woche 15 Leute, zurückkehrende Rumänen, aber auch viele Italiener. Zuletzt einen 50-Jährigen aus Livorno, der dort nichts fand; hier war er nach vier Tagen bei einer Straßenbaufirma angestellt für 750 Euro im Monat."

Der Honorarkonsul zeigt auf seinem Handy, dass ein örtlicher Unternehmer 15 Zimmerleute und Schlosser angefragt hat, die er für 1500 Euro anstellen will, plus Unterkunft und Verpflegung. Es ist kein Zufall, dass sonntagabends ganze Handwerkertrupps aus Bergamo vom Flughafen Orio al Serio abfliegen. Ihr Ziel sind die Baustellen von Cluj. Freitags kehren sie zurück, sie sind Flugpendler, ein sehr normales europäisches Schicksal. Der Flughafen von Cluj zählt 2,5 Millionen Passagiere im Jahr. "Versuch mal, in Cluj einen Schreiner zu finden", scherzt Carlo Airoldi, 55, Geologe an der Universität Babes-Bolyai.

Er nimmt Teil an einer Konferenz an der Fakultät für Geschichte und Philosophie. Dabei geht es um die Boomzeit Italiens, und es gibt einige Parallelen zum heutigen Rumänien, wie er findet. Dort expandiert unter anderem der Hightech-Bereich - es gibt mindestens 20 000 frisch diplomierte Fachleute, sie können um die 3000 Euro im Monat verdienen.

"Niemand emigriert gerne, aber wenn du Arbeit suchst in einer Gesellschaft, die nicht so anders ist als unsere - hier findet man sie", sagt Stefano Dardani, 57. In Italien herrsche ein verzerrtes Bild von Rumänien. Dardani ist für die Qualitätsabnahme verantwortlich bei Irsap, einem Heizkörperhersteller. Die Fabriken reihen sich aneinander, auch der italienische Haushaltsgerätehersteller Delonghi produziert in Cluj. Beim Schichtwechsel in der grauen Morgendämmerung geht es zu wie im Turin der 1960er-Jahre, und 100 Stellen sind ausgeschrieben.

Der O-Bus, der wie in einem Traum vom Gestern Cluj durchquert, lässt die Scheiben der Lokale vibrieren, die alle voll sind. Die Italiener gehen gerne in den "Club Italia" des Cluj-Pioniers Giuseppe Anastasio aus Catania, der 80 ist und der alten Heimat nicht nachweint. Aber man ist in Cluj ja auch nicht provinziell, im Supermarkt gibt es Pasta und Mozzarella.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: