Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Sehnsucht nach Orientierung

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Der Politikwissenschaftler Alfons Söllner schaut auf das "Jahrhundert der Flüchtlinge" und schwankt dabei zwischen "uneingestandener Resignation und herbeizitierter Hoffnung".

Von Werner Weidenfeld

Im Zeitalter der Komplexität gibt es einen sehr großen Bedarf an Deutung, Erklärung, Orientierung. Die Republik sucht nach Antworten auf Sinnfragen. Angesichts größerer Brüchigkeit und Zersplitterung der Gesellschaft muss die Politik Antworten liefern, was die Gesellschaft denn zusammenhalten kann. Auf die Frage, was man von der Politik nun erwartet, steht auf Platz eins: "ein klares Zukunftsbild". Dies aber ist bisher nicht sichtbar, und die Politik begegnet den Problemen mit strategischer Sprachlosigkeit.

Diese Problematik fehlender Orientierung verschärft sich immer wieder durch den wachsenden Migrationsdruck. Die Zahl der Flüchtlinge nimmt weiter zu. Wie sieht in diesen Zeiten von Asylparadoxien und Flüchtlingsparadoxien der vernünftige Aufbruch in eine Ära der neuen gesellschaftlichen Integration aus?

Vor diesem Hintergrund greift der Leser neugierig zu dem Buch von Alfons Söllner, jenem renommierten Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte, der sein Berufsleben immer wieder den neuen Herausforderungen der Asylpolitik gewidmet hat. Söllner, emeritiert seit 2012, hat in "Das Jahrhundert der Flüchtlinge" zahlreiche Aufsätze der vergangenen Jahrzehnte versammelt. Da wird zunächst heftig die Aushöhlung des Asylrechts kritisiert und dann jedoch in späteren Zeiten die großzügige Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland als ein Zeichen der Hoffnung gewertet. Angela Merkels berühmtes Wort von 2015 "Wir schaffen das" gerät in diesem Buch zum Signal einer Ära hochorganisierter "Willkommenskultur". Aber dann werden auch die erneuten asylpolitischen Verschlechterungen nicht vertuscht.

Das Buch ist jenseits der diversen Sachdarstellungen zu den verschiedenen asylpolitischen Verschlechterungen ein Dokument der Pro-und-contra-Dramen, die der Autor bei seinem lebenslangen Forschungsthema Asylpolitik durchleben und durchleiden musste. Söllner beschreibt diese Autoren-Stimmungslage als eine "ziemlich unerquickliche Mischung uneingestandener Resignation und herbeizitierter Hoffnung direkt nebeneinander".

Und dann wird der Leser wieder auf die elementare ungelöste Grundsatzproblematik geführt: "In dieser Konfliktlage spüre ich ein verstärktes Bedürfnis nach einer wirklich tragfähigen Orientierung, aber sie steht mir nicht mehr in der gewollten Weise zur Verfügung." Der Leser muss das komplizierte Thema also selbst lösen. Die "vielen ungedeckten Schecks" werden hier nicht eingelöst.

Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) der Universität München.

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