Migration:Brutale Bremse

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Libyens Küstenwache hat bisher etwa 14 000 Menschen auf Booten gestoppt und zurückgebracht. Diese Aktionen sind höchst umstritten. (Foto: Joan Mateu Parra/dpa)

Die Zahl der Menschen, die von Nordafrika aus über das Mittelmeer nach Italien kommen, ist stark zurückgegangen. Das liegt vor allem an Tunesien und Libyen.

Von Andrea Bachstein

Etwas ist anders in diesem Sommer in Italien. Waren jahrelang die vielen Migranten, die über das Mittelmeer kamen, dramatische Rettungsaktionen auf See und überfüllte Aufnahmezentren Dauerthema in Medien und Politik, so ist derzeit kaum davon die Rede. Tatsächlich, die Lage ist aus italienischer Sicht eher entspannt: Die Zahl der Bootsflüchtlinge ist drastisch gesunken, gut 38 000 sind laut Innenministerium in Rom dieses Jahr angekommen (Stand 19. August). Vor einem Jahr waren es zur gleichen Zeit bereits 105 000 Menschen, gut doppelt so viele wie 2022. In diesem Juli hingegen gab es Tage, da landete nicht ein Flüchtling, obwohl die meisten im Hochsommer Überfahrten von Nordafrika wagen. Nun sind es 63 Prozent weniger Ankünfte als vor einem Jahr.

Damals brachen die meisten Migranten von Tunesien Richtung Sizilien auf, nun ist Libyen wieder wichtigster Ausgangspunkt. Die größte Nationalitätengruppe kommt aus Bangladesch, gefolgt von Syrien und Tunesien. Von den Subsahara-Ländern ist Guinea mit gut 2100 an erster Stelle. Die größte Gruppe kommt mit fast 9400 Menschen aus „anderen“ Staaten, vor allem afrikanischen. 

Tunesien hat kein Asylsystem, Präsident Saied will die Migranten loswerden

Weshalb dieser Rückgang, es sind doch mehr Flüchtlinge und Migranten auf der Welt unterwegs denn je? Dass weniger übers Meer nach Italien gelangen, hat zu tun mit dem, was in Tunesien und Libyen passiert. Mit beiden Ländern haben die EU und Italien Abkommen geschlossen. Es fließt Geld nach Tunis und Tripolis dafür, dass dort Migranten aufgehalten werden. 2023 sagte die EU Tunesien 105 Millionen Euro dafür zu, Italien und Frankreich wollen weiteres Geld geben. Im Mai erklärte die Nationalgarde, es seien mehr als 21 000 Migranten auf See „an der Ausreise gehindert oder gerettet“ worden.

Jedoch hat Tunesien kein Aufnahme- und Asylsystem. Menschen- und Flüchtlingsrechte sind in dem zunehmend autoritär regierten Land alles andere als garantiert, Präsident Kais Saied will die Migranten aus Subsahara-Ländern loswerden. Küstenwache und andere Einheiten gehen schikanös, teilweise brutal gegen sie vor, darüber gibt es viele Berichte von Betroffenen, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten. Demnach schlagen Sicherheitskräfte Migranten, karren sie ohne Prüfung ihres Falls in die Wüste an der Grenze zu Algerien. Dutzende sind dort umgekommen, vermutlich weitere unbemerkt.

Dasselbe passiert an der Grenze zu Libyen. Von mindestens 29 in der Wüste Gestorbenen berichteten die UN im April. Im Grenzgebiet wurde auch ein Massengrab mit mindestens 65 Toten entdeckt. Das UNHCR hat in Tunesien mehr als 18 000 Flüchtlinge registriert, es sind längst nicht alle. Es kursieren Zahlen bis zu 70 000. Innenminister Kamel Feki sagte im Mai, 32 000 Menschen aus Subsahara-Staaten seien im Land, 23 000 irregulär.

Schüsse auf Migranten, mit Waffen bedrohte Seenotretter

Libyens Küstenwache hat laut der UN-Agentur für Migration (IOM) bisher rund 14 000 Menschen auf Booten gestoppt und zurückgebracht. Diese Aktionen sind höchst umstritten. Das Land gilt als nicht sicher, nach internationalem Recht dürfen Flüchtlinge nicht dorthin zurückgebracht werden, auch nicht aus Seenot gerettete. Seit Jahren wird berichtet, die Küstenwache misshandle Flüchtlinge, unterlasse Hilfe, schieße auf Migranten. Crews privater Seenotretter berichteten, mit Waffen bedroht worden zu sein. Im April meldete die italienische NGO Mediterranea Saving Humans, Küstenwachleute hätten ihr Schiff in internationalen Gewässern beschossen. Es gibt zudem Hinweise, dass kriminelle Milizen am Stoppen von Migrantenbooten beteiligt sind.

Nicht nur an der Küste scheinen Libyens Sicherheitskräfte verstärkt gegen irreguläre Migration vorzugehen. Fast täglich melden sie in sozialen Medien, Migranten aufgegriffen, sie aus der Gewalt von Milizen befreit und Ägypter gruppenweise abgeschoben zu haben. Als Asyl suchend oder Flüchtlinge sind laut UNHCR rund 66 000 Menschen registriert, davon 40 000 vor dem Konflikt im Sudan Geflüchtete. Irreguläre Migranten gibt es weit mehr: Im Juli sprach der Innenminister der Regierung in Tripolis von 2,5 Millionen Ausländern, 70 bis 80 Prozent seien illegal eingereist.

So brutal Tunesiens und Libyens Küstenwachen vorgehen, womöglich gäbe es sonst noch mehr Untergänge und Tote. Doch das zentrale Mittelmeer bleibt die tödlichste Flüchtlingsstrecke. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind auf ihr 2024 schon mehr als 1000 Menschen gestorben, oder sie werden vermisst.

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