Gesundheit:Wenn kein Arzt kommt

Gesundheit: Besonders gefährdet auf der Flucht sind Mütter und Kinder.

Besonders gefährdet auf der Flucht sind Mütter und Kinder.

(Foto: Issam Abdallah/Reuters)

Migranten und Geflüchtete haben ein höheres Risiko, krank zu werden, als der Rest der Gesellschaft in ihren Zielländern. Das liegt an den Gefahren der Flucht, aber nicht nur.

Von Andrea Bachstein, München

Ungefähr jeder achte Mensch auf der Welt ist Migrant oder Flüchtling. Wie es dieser etwa einen Milliarde Frauen, Männer, und ja, Kindern gesundheitlich geht, wie und ob überhaupt sie Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, dazu gibt es noch nicht einmal international vergleichbare Daten. Sie seien "unsichtbar" in vielen nationalen Gesundheitsstatistiken, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Mittwoch, als die Weltgesundheitsorganisation ihren ersten "Weltbericht über die Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen" vorstellte. Um es vorweg zu nehmen - auf den 340 Seiten wird klar, es geht den Migranten und Flüchtlingen meistens schlechter als der Bevölkerung ihrer Ziel- und Aufnahmeländer. Sie gehören "zu den am stärksten gefährdeten und vernachlässigten Mitgliedern vieler Gesellschaften", stellte Ghebreyesus fest.

Natürlich erkranken Migranten und Flüchtlingen am selben wie alle anderen Menschen, von Hochdruck über Diabetes, Malaria, Krebs, Covid-19 und anderen Infektionen bis zu psychischen Erkrankungen. Aber, so der WHO-Report, oft werden ihre Probleme spät oder zu spät erkannt und behandelt. Die Gründe sind so vielfältig wie die Lebenssituationen von Migranten in jedem Teil des Globus. Es liegt dem Bericht zufolge nicht daran, dass Migranten und Flüchtlinge von Beginn an weniger gesund sind - sie haben schlechtere Chancen, gesund zu bleiben.

Etwa, weil sie in mangelhaften Unterkünften leben, weil sie in der Nähe von Feldern schlafen, die mit Gift behandelt werden. Und weil Migranten mehr Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme haben: Sie sind öfter als Einheimische darauf angewiesen, unqualifizierte, schmutzigere, gefährlichere Jobs zu anzunehmen, auch in Schwarzarbeit, wo Arbeitsschutzgesetze ignoriert werden. Das habe eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse ergeben, an der mehr als 17 Millionen Menschen aus 16 Ländern in fünf WHO-Regionen teilnahmen, erläutert der Bericht.

Illegale Arbeitsmigranten haben in vielen Ländern keinen Zugang zum Gesundheitssystem; selbst wenn sie krank oder verletzt sind, wagen viele es wegen ihrer rechtlichen Lage nicht, sich an Klinken und Ärzte zu wenden, aus Angst vor Ausweisung. Die WHO will, dass sich das ändert und nennt als Vorbild etwa Portugal, das während der Pandemie allen im Land, legal oder nicht, Behandlung und Impfung ermöglichte. Eine Rolle spielt auch, dass Migranten mangels Sprach- und Kulturkenntnissen gar nicht an Informationen gelangen, wie sie Hilfe finden und, etwa durch Impfungen, ihre Gesundheit schützen können.

Auf der Reise droht jede Form von Gewalt, Haft und Gefangenschaft

Ein Risiko für ihre Gesundheit, ja ihr Überleben sind für Flüchtlinge und Migranten bereits ihre Wege in die Zielländer - auf ihnen sind weltweit mindestens 47 300 Menschen umgekommen in den vergangenen sieben Jahren, gibt die Internationale Migrationsorganisation IOM an. Wer überlebt, macht oft Schlimmstes mit, jede Form von Gewalt, Haft oder anderer Gefangenschaft, Lager mit verheerenden sanitären Bedingungen. Solche Erfahrungen sowie Verfolgungs- oder Kriegssituationen vor der Flucht haben laut dem Report auch die Konsequenz, dass Flüchtlinge und Migranten häufiger als ansässige Menschen posttraumatischen Störungen und Depressionen zu erleiden scheinen. Das betrifft nicht zuletzt minderjährige Flüchtlinge und Migranten.

Auch gibt es offenbar eine höhere Kindersterblichkeit, das ist genauer beobachtet worden bei syrischen Flüchtlingen im östlichen Mittelmeerraum. Demnach haben Kinder und Mütter ein erhöhtes Risiko für Unterernährung und Anämie; auch in anderen Weltgegenden zeigt sich, dass die Frauen ohne Geburtsvorsorge bleiben. So stünden Frauen besonders vor ernsten Gesundheitsproblemen, schildert der Bericht, durch Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit.

Die WHO unterstreicht, dass die Gesundheit von Migranten und Flüchtlingen mehr beachtet werden müsse. Es brauche bessere Datenerhebung und Überwachungssysteme, "als Richtschnur für wirksamere Strategien und Interventionen". Und zwar nicht zuletzt, weil vom Klimawandel ausgelöste Krisen schnell immer mehr Menschen vertreiben. So hätten sich 2020 von 40,5 Millionen neu Binnenvertriebenen 76 Prozent, also 30,7 Millionen, wegen wetterbedingter Katastrophen aufgemacht.

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