Migration:Kommt die radikale Kurswende in der Migrationspolitik?

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Könnte künftig an der Grenze geprüft werden, ob Deutschland für einreisende Asylsuchende überhaupt zuständig ist? (Foto: Hannes P Albert/picture alliance/dpa)

Die Innenministerin lässt prüfen, ob Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze möglich wären. Die Grünen warnen vor „Hysterie“ im Kampf gegen den Terrorismus.

Von Markus Balser, Daniel Brössler, Paul-Anton Krüger, Berlin

Als der Bundeskanzler wenige Tage nach den Morden von Solingen über Verschärfungen in der Migrationspolitik sprach, klang es erst mal so, als würde sich zumindest beim Thema Zurückweisungen nichts ändern. Wenige Stunden nach seinem Gespräch mit Oppositionsführer Friedrich Merz betonte Olaf Scholz (SPD) vergangene Woche auf einer Wahlkampfbühne in Jena, bei allen Vorschlägen müssten das Grundgesetz, die Regeln der EU und internationales Recht eingehalten werden. Mit Verweis auf die rechtliche Lage hatte schon Scholz’ Vorgängerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise 2015 Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen abgelehnt.

Mittlerweile sieht es allerdings so aus, als könnte die Äußerung von Scholz auch ganz anders verstanden werden: als Auftrag, rechtliche Möglichkeiten für so weitreichende Entscheidungen wie die Zurückweisungen auszuloten. Im Kanzleramt wird zwar darauf verwiesen, dass das Ergebnis dieser Prüfung abgewartet werden müsse. Aber selbst Koalitionäre sind überrascht: Hieß es nicht seit Jahren, die Zurückweisungen seien rechtlich gar nicht möglich? Scholz hat immer wieder betont, die irreguläre Migration deutlich reduzieren zu wollen. Dafür scheint er nun auch zu Schritten bereit zu sein, die über Jahre als Tabu galten.

Die Debatte wühlt die Koalition auf

Wie weit zumindest Teile der Ampelkoalition gehen würden, machte am Dienstagabend der Migrationsgipfel von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) klar. Ihr Ressort wird nach Beratungen von SPD, FDP und Grünen einerseits und der Union andererseits tatsächlich binnen weniger Tage prüfen, ob Deutschland Zurückweisungen an der Grenze vornehmen kann. Schon Anfang der Woche wollen CDU und CSU wissen, ob die Ampel den Plan mitträgt.

Wie sehr die Frage die Koalition aufwühlt, wird bereits am Mittwoch klar. Bei der Klausur der Grünen-Fraktion in einem Tagungshotel im noblen Berliner Stadtteil Dahlem hält Außenministerin Annalena Baerbock ein eindringliches Plädoyer für ein Innehalten in der Migrationspolitik. „So sehr man emotional getrieben ist: Die größte Kraft des Rechtsstaates ist es, in aufgewühlten Zeiten zu differenzieren“, mahnt die Außenministerin. Zwischen Islamisten, die das friedliche Miteinander angriffen und denen, die vor ihnen geflohen seien – Kinder und Familien etwa. „Terrorismus bekämpft man nicht mit Hysterie“, schließt Baerbock.

Vielen Grünen spricht sie damit aus der Seele. Hinter vorgehaltener Hand machen Fachpolitiker der Partei am Mittwoch klar, dass sie Zurückweisungen an der Grenze juristisch für gar nicht umsetzbar halten. Von fatalen möglichen Kollateralschäden bei einem deutschen Alleingang wie einem praktischen Ende des freien Schengenraums ist bei den Grünen sogar die Rede.

Grüne wollen nicht als Verhinderer dastehen

Öffentlich begraben wollen sie den Plan aber auch nicht. Zu tief sitzt die Sorge, in der aufgeheizten Stimmung wieder als Verhinderer einer härteren Migrationspolitik dazustehen. Kurz vor den Wahlen in Brandenburg am 22. September wollen Partei- und Fraktionsspitze das offenbar nicht riskieren. Die Kritik klingt nur dezent an. „Wir prüfen alle Vorschläge offen, die helfen und mit Grundgesetz und europäischem Recht vereinbar sind“, sagt Fraktionschefin Britta Haßelmann.

In der FDP hat Parteichef Christian Lindner am Montag bereits die grobe Marschrichtung vorgegeben. Es brauche „eine grundlegende Neuordnung der Einwanderungs- und Asylpolitik“, forderte der Bundesfinanzminister. Die „Kontrolle und Konsequenz im Bereich der Einwanderung“ müsse weiter verbessert werden, Bürgerinnen und Bürger seien mit „Tiefe und Tempo“ der Veränderungen nicht zufrieden. Bei den Beratungen von Bund, Ländern und der Union als größter Oppositionsfraktion dürfe es keine Denkverbote geben. Die FDP sei bereit zu Änderungen am internationalen und europäischen Recht wie auch am Grundgesetz und „zu allen erforderlichen Maßnahmen“.

Auch die Liberalen könnten den Druck Richtung Grüne erhöhen. Die Bundestagsfraktion will an diesem Donnerstag bei ihrer Herbstklausur in Hamburg ein Positionspapier zu Migrationspolitik beschließen. Dem Vernehmen nach können sich die Liberalen Zurückweisungen von Migranten an den deutschen Außengrenzen vorstellen, soweit dies rechtssicher möglich ist. Zu Details wollte sich die FDP vor den Beratungen nicht äußern. 

Komplizierte juristische Lage

Die Rechtsfragen um Zurückweisungen sind kompliziert. Nach den europäischen Dublin-Regeln ist das Land für ein Asylverfahren zuständig, in dem ein Migrant in Europa angekommen ist. Da Deutschland von EU-Ländern umgeben ist, sind bei der Einreise über Land in der Regel andere Länder für die Asylverfahren verantwortlich. Ob Asylsuchende unter die sogenannte Drittstaatenregelung fallen, wird bislang jedoch in einem aufwendigen Erstaufnahmeverfahren in Deutschland geklärt. Nun wird ermittelt, ob diese Prüfung auch direkt an der Grenze geschehen kann – unter schwierigen Bedingungen und Zeitdruck also. Ein Sprecher des Innenministeriums kündigt am Mittwoch an, dass die Ergebnisse der juristischen Prüfung „zeitnah vorliegen und dann erneut mit den Ländern und der Union beraten werden“ sollten.

Droht der Ampelkoalition damit der nächste Großstreit, vielleicht sogar der letzte? Die Grünen weisen am Mittwoch schon mal darauf hin, dass sie keinen Koalitionsbruch erwarten. Wenn es schwierig werde, müsse man eben die Anstrengungen verdreifachen, sagt Annalena Baerbock. Die demokratischen Parteien müssten nun gemeinsam nach guten Lösungen suchen. „Wenn wir es uns leicht machen würden, würden wir sagen, wir haben es versucht, aber es hat halt nicht geklappt“, sagt die Außenministerin. „Genau das aber wollen wir nicht tun.“

Am Abend äußert sich Olaf Scholz bei einem Bürgergespräch in Berlin ganz ähnlich. Man habe, sagt er, schon einiges auf den Weg gebracht. „Und“, verspricht der Kanzler, „da kommt jetzt noch mehr“. Was da kommt, verrät er nicht.

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