Süddeutsche Zeitung

Migration:Der EU läuft die Zeit davon

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Die Zahl der Asylbewerber steigt - droht langfristig der Zusammenbruch des Schengenraums? Wie Parlament und Mitgliedstaaten um neue Asylgesetze ringen.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser neigt nicht zum Alarmismus. Umso bemerkenswerter ist es, wie eindringlich die SPD-Politikerin nun davor warnt, der Schengen-Raum und damit die Freizügigkeit in Europa gerieten in Gefahr, wenn die Europäische Union nicht bald zu einem gemeinsamen Umgang mit der steigenden Zahl von Migranten findet. Ihre Warnung: Immer mehr Mitgliedstaaten könnten Grenzkontrollen einführen, um zu verhindern, dass aus Nachbarstaaten Asylbewerber über die Grenze kommen. Europa würde um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Das Europaparlament hat nun Vorarbeit geleistet. Der Innenausschuss brachte mit einer Mehrheit aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen an diesem Dienstag vier Gesetze auf den Weg, die gemeinsame Verfahren für die Aufnahme, Erfassung, Verteilung und Abschiebung von Migranten formulieren. Die Gesetze stammen aus dem Pakt für Migration und Asyl, den die EU-Kommission vor zweieinhalb Jahren als Lehre aus der Migrationskrise 2015 und 2016 vorgestellt hat. Im ersten Anlauf scheiterten die Verhandlungen, weil sich Ungarn und Polen weigerten, zur Aufnahme von Flüchtlingen ihren Beitrag zu leisten. Danach geriet der Pakt aus dem Blick, denn die Migrationszahlen sanken. Nun kehrt das Thema mit Macht zurück, und die Zeit drängt.

Das Parlament und die Mitgliedsländer haben vergangenes Jahr vereinbart, die neue Asylgesetzgebung noch vor den Wahlen zum Europaparlament im Frühjahr 2024 über die Bühne zu bringen. Dazu müssten die Verhandlungen zwischen den beiden Institutionen spätestens im Sommer beginnen - aber die 27 Regierungen haben immer noch keine gemeinsame Haltung gefunden. Die große Frage: Vertrauen sie einander?

Italiens Regierung verstößt gegen EU-Regeln

Die Gesetze sehen vor, dass die Staaten an den Außengrenzen, Italien etwa, mehr Aufgaben erledigen. Geplant sind beschleunigte Asylverfahren samt schneller Abschiebung an der Grenze. Dazu müssten die Menschen in Lagern festgehalten werden. Die italienische Regierung schickt derzeit die Mehrzahl der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, einfach weiter, ohne sie zu registrieren. Sie verstößt damit gegen geltende EU-Regeln. Zusätzliche Verantwortung wird sie nur übernehmen, wenn sie sicher sein kann, dass sie danach bei der Übernahme von Flüchtlingen auf die Solidarität der anderen Staaten bauen kann.

Verantwortung gegen Solidarität: Das ist der Deal, den die Staaten schließen müssten. Aber das Misstrauen zwischen Grenz- und Binnenstaaten der EU ist nach wie vor groß.

Am leichtesten dürfte ein Kompromiss zum sogenannten Screening zu finden sein. Alle Migranten, die irregulär in die EU einreisen, müssen sich demnach innerhalb von fünf Tagen einem Gesundheitscheck sowie einer Identitäts- und Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Biometrische Daten werden erfasst und abgeglichen in der Datenbank Eurodac. Diese Datensammlung soll noch intensiver als bislang genutzt werden, um Straftäter herauszufiltern sowie Menschen, die bereits einen Asylantrag in der EU gestellt haben. Außerdem sollen hier unabhängige Beobachter sicherstellen, dass die Menschenrechte der Migranten beachtet werden.

Auch ein Widerspruch soll keine aufschiebende Wirkung haben

Höchst umstritten ist die Änderung der Asylverfahrensverordnung. Über Anträge von Migranten aus Ländern, die im EU-Schnitt eine Anerkennungsquote unter 20 Prozent haben, soll innerhalb von sechs Wochen in einer geschlossenen Einrichtung entschieden werden. Ist der Antrag abgelehnt, sollen die Antragsteller von der Grenze aus innerhalb weiterer sechs Wochen abgeschoben werden - selbst wenn sie Widerspruch einlegen, hätte das keine aufschiebende Wirkung. Das Parlament möchte den Regierungen allerdings freistellen, ob sie die beschleunigten Verfahren anwenden.

Zuständig für das Asylverfahren bleibt der Staat, auf dessen Boden der Antragsteller die EU betreten hat. So steht das in der Verordnung für Asyl- und Migrationsmanagement, die die Dublin-Regelungen ersetzen soll. Erst wenn die EU-Kommission feststellt, dass das betreffende Land unter "Migrationsdruck" steht, sollen die anderen Länder Solidarität leisten müssen, in welcher Form auch immer, ob durch Übernahme von Migranten oder Geldzahlungen. An diesem Punkt wird sich die Zukunft des Migrationspaktes entscheiden. Vergangenes Jahr vereinbarten die 27 Regierungen zur Probe einen "freiwilligen Solidaritätsmechanismus", doch eine nennenswerte Zahl von Flüchtlingen wollten nur Deutschland und Frankreich übernehmen.

Nancy Faeser lotete vergangene Woche im Gespräch mit fünf anderen europäischen Ministerinnen und Ministern Möglichkeiten für Kompromisse aus. Sie sagte bei dem Anlass, auch "hohe Zäune und Mauern" seien Teil der Lösung für die aktuellen Migrationsprobleme. Sie hatte ihr Amt angetreten mit dem Anspruch, eine humanere Flüchtlingspolitik durchzusetzen. Nun scheint sie angekommen zu sein in der Realität europäischer Flüchtlingspolitik, in der es vor allem darum geht, Migranten fernzuhalten. Und dafür soll vor allem die EU-Kommission sorgen.

Bulgarien und Rumänien werden unter Anleitung der Kommission demnächst ein "Pilotprojekt" für beschleunigte Asylverfahren entwickeln, wie sie der Migrationspakt vorsieht. Die Kommission hilft der bulgarischen Regierung jetzt auch dabei, die Mauer an der Grenze zur Türkei aufzurüsten. Präsidentin Ursula von der Leyen hat ihr Prinzip verteidigt: Ihre Behörde bezahlt keine Mauern und Zäune. Aber sie zahlt für Wachtürme, Kameras, elektronische Sicherungsanlagen.

Mauern und Zäune können keine Menschen davon abhalten, aus Nordafrika übers Mittelmeer nach Italien zu streben. Die EU versucht das weiterhin, indem sie Staaten wie Tunesien Geld dafür gibt, die Migration zu stoppen. Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni fordert, Asylverfahren gleich auf afrikanischem Boden abzuwickeln. Doch dafür gibt es keine Mehrheiten in der EU - bislang jedenfalls.

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