Süddeutsche Zeitung

Migration:"Es trifft nicht zu, dass Angela Merkel die Tür für alle öffnet"

Rita Süssmuth erarbeitete vor 15 Jahren Vorschläge für geregelte Zuwanderung. Heute sind ihre Ideen aktuell wie nie. Ein Gespräch über das Einwanderungsland Deutschland.

Interview von Lars Langenau

Obwohl sie seit 2002 nicht mehr Bundestagsabgeordnete ist, hat Rita Süssmuth, 78, noch ein Büro in Berlin und ist auf vielen Ebenen in der Politik aktiv. Mitte der 80er Jahre war die CDU-Politikerin Familienministerin und seit 1988 für fast zehn Jahre Bundestagspräsidentin. Zwischen 2000 und 2001 saß sie der von Bundeskanzler Gerhard Schröder einberufenen Unabhängigen Kommission Zuwanderung vor.

SZ: Angesichts der großen Flüchtlingsströme beschleicht einen der Eindruck einer handlungsunfähigen Politik.

Süssmuth: Nein, die Regierung ist nicht handlungsunfähig. An der Lösung der Probleme wird täglich intensivst gearbeitet. Das braucht Zeit und erfordert kürzere Abstände für die Öffentlichkeitsinformation, die mehr Klarheit und Orientierung in Bezug auf die Ziele und Verfahren schafft. Seit 2000 und erst recht seit 2005 hat sich sehr viel getan. Damals haben Hans-Jochen Vogel und ich mit vielen anderen Experten ein gutes, ausgewogenes Konzept für ein modernes Einwanderungsgesetz erarbeitet. Das war begleitet von heftigen, sehr strittigen Diskussionen, vor allem darüber, ob wir überhaupt ein Einwanderungsland sind. Man war einfach noch nicht bereit, das zu akzeptieren. Auch in meiner Fraktion wurde mir gesagt: "Das werden wir auch nie werden." Dabei waren wir da schon lange ein Einwanderungsland.

Was waren damals die Beweggründe für die 2000 eingerichtete Unabhängige Kommission Zuwanderung?

Es fehlten in mehreren Branchen qualifizierte Arbeitskräfte, zum Beispiel im IT-Bereich. Hinzu kamen demografische Entwicklungen. Unsere Kommission hat zunächst die demografische Situation analysiert und den Bedarf von Arbeitskräften zu bestimmen versucht. Daraus haben wir Vorschläge für innere Reformen und für die Anwerbung von Arbeitskräften entwickelt.

Auf welche Widerstände sind Sie damals gestoßen?

Es hatte einfach kein Paradigmenwechsel in den Köpfen stattgefunden. Bejaht wurde die Notwendigkeit der Integration, aber der Anwerbestopp mit seinen Ausnahmeregelungen sollte bleiben. Unsere Vorschläge zu den Zuwanderungsregelungen wurden auf spätere Jahre verschoben.

Was war das Ziel der Kommission?

Antworten zu geben zu den komplexen Fragen und Problemen der Migration. Als wir 2001 den Bericht abgaben, legten wir Wert auf ein umfassendes Konzept. Da haben wir sowohl auf humanitäre Belange als auch die des Arbeitsmarktes gleichermaßen geachtet. Und das alles unter Berücksichtigung von nationalen und europäischen Gesichtspunkten. Wir haben Quoten angegeben, bei Auszubildenden sollten das zunächst 10 000 pro Jahr sein, bei Hochqualifizierten und Selbständigen 20 000 Menschen, die jährlich bei uns Zugang haben sollten.

Das hört sich im Vergleich zu heute sehr gering an.

Das trifft zu, aber wir wollten zunächst Erfahrungen mit geregelter Zuwanderung und Integration sammeln. Dazu gehörte der Entwurf eines Punktesystems, mit Kriterien wie Alter, Qualifikation und Sprachkenntnissen. Auch ein solches Punktsystem fand keine mehrheitliche Zustimmung. Aber Gestaltung bedeutet auch eine Auswahl treffen, beziehungsweise eine Festlegung der Zuwanderungsberechtigten nach begründeten Kriterien. Deshalb haben wir damals die Kritik nicht verstanden.

Sie hatten einen Schwerpunkt auf die Integration gelegt.

Das war ebenso wichtig, denn bis zur gesetzlichen Neuregelung vom 30. Juli 2004 gab es keine Integrationspolitik über die Landesgrenzen hinweg. Weder Sprachkurse noch Integrationsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt waren einheitlich geregelt. Unser Ziel war: Wir wollten von einem Anwerbestopp, der damals noch galt, hin zu einer geordneten Zuwanderung. Man einigte sich schließlich auf ein Gesetz zur Integration - aber nicht auf ein Gesetz zur Zuwanderung.

Was war das Hauptargument dagegen?

Der Haupteinwand lautete: Gesetzliche Regelung zur Zu- und Einwanderung könnten erst erfolgen, wenn die Arbeitslosigkeit erfolgreich abgebaut worden sei. Es ist dann bei einem Anwerbestopp geblieben, mit Ausnahmen für Studierende, Hochqualifizierte und Selbständige. Nur wurden die Anforderungen für diese Gruppen so hoch angesetzt, dass wenige diese in Anspruch nahmen, mit Ausnahme der Studierenden nach Abschluss des Examens.

Hat Ideologie einen Erfolg der Kommission verhindert?

Ja und zwar insofern, als die Realitätsverweigerung (wir sind kein Einwanderungsland) und die ideologischen Argumente bei der Angst vor neuen Zuwanderern nur minimale Schritte in Richtung Zuwanderung ermöglichten.

Hätten wir die massenhafte Einwanderung nicht, wenn vor 15 Jahren den Empfehlungen Ihrer Kommission entsprochen worden wäre?

Das will und kann ich nicht behaupten, aber wir hätten den Bereich der Arbeitsmigration geregelter. Wir brauchen nach wie vor ein Zuwanderungsgesetz. Angesichts des Flüchtlingsstromes hätte das zurzeit keine Chance, aber es ist nach wie vor erforderlich.

Aber ist nicht genau jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Zuwanderungsgesetz, denn dann bräuchte doch nicht jeder, der hier nur leben möchte, das Grundrecht auf Asyl in Anspruch zu nehmen?

Von mehreren Fraktionen liegen Gesetzesentwürfe vor.

Könnte man nicht einfach Ihren aus der Schublade holen?

Klar könnte man das machen, der ist ja noch immer aktuell. Man müsste das nur so gestalten, dass dies im In- und Ausland auch wirklich verstanden wird. Wir haben damals Vorschläge zu einer gesteuerten Zuwanderung gemacht. Doch derzeit ist es notwendig, angesichts der Flüchtlingsströme, die Steuerungsfähigkeit wiederzugewinnen. Ohne die humanitären Verpflichtungen zu relativieren.

Nochmal zurück: Jeder aufgeklärte Mensch wusste bereits vor Jahrzehnten, dass eines Tages auch viele Armutsflüchtlinge vor unserer Tür stehen werden. Wieso hat die jetzige Situation alle überrascht? Wieso waren wir nicht vorbereitet?

Wir hätten es sein können, waren es aber nicht. Nur ist es müßig, sich darüber jetzt aufzuregen, dass wir Fluchtursachen viel früher hätten bekämpfen und Konfliktregionen zum Schwerpunkt unserer Außenpolitik machen können. Die Konfliktherde der Welt sind nahe an Europa herangerückt. Die UN warnt seit langem, dass wir Lösungen finden müssen für die von Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit bedrängten Länder. Geschieht das nicht, suchen sich die Betroffenen ihre Wege nach Europa.

Über die Flüchtlingspolitik wird seit Monaten überall heiß diskutiert. Wer kann die Diskussion versachlichen?

Nur die politischen Entscheidungsträger zusammen mit der Bürgerschaft unseres Landes. Deshalb halte ich es für wichtig, die hoch emotionalisierten und von Panik getriebenen Debatten zu versachlichen. Es besteht Einigkeit darüber, dass wir Lösungen brauchen, aber das 'wie' ist streitig. Trotzdem kommt es darauf an, dass wir die Einigung so schnell wie möglich erzielen, um Gefährlicheres zu verhindern.

Nur wie?

Es ist eine große Herausforderung. Die Lösung ist nicht einfach. Auch andere Länder sind bis aufs Äußerste gefordert und oft auch überfordert - wie die Türkei oder Jordanien.

Die Kanzlerin steht in der Flüchtlingsfrage schwer unter Druck. Teilen Sie die Kritik?

Nein. Es wird mit aller Kraft daran gearbeitet, wie wir den Zustrom einschränken. Sie und ihr Team tun was sie können. Sei es auf nationaler oder europäischer Ebene oder in den bilateralen Verständigungen mit der Türkei. Dies alles sind Maßnahmen, die uns innenpolitisch entlasten. Die Bundeskanzlerin hat in den Tagen höchster Belastung und Not der Flüchtlinge eine Entscheidung aus tiefst ethischer Grundüberzeugung getroffen. Das hat beachtenswerte Zustimmung im In- und Ausland gefunden, aber auch Kritik hervorgerufen.

Es muss uns gelingen, menschenwürdige Unterkünfte in den direkten Flüchtlingsländern zu errichten und zugleich die europäischen Außengrenzen zu sichern. Auch werden Finanzen gerade stark umgeleitet, damit man den Kommunen beispielsweise im Wohnungsbau hilft. Daran wird gerade intensivst gearbeitet.

Sie sehen also einen Hoffnungsschimmer?

Ja, aber die Erfolge - menschenwürdige Unterkünfte, Verringerung der Fluchtursachen, faire Verteilung der Flüchtlinge - brauchen Zeit.

Merkel hat den richtigen Weg beschritten?

Ja, denn wer die Vorstellung hat, dass diese massiven Probleme ein einzelner Staat allein lösen könnte, verkennt die Realität. Auch hier hat die Kanzlerin ein neues Denken und Handeln auf den Weg gebracht. Wir müssen zunächst den Gefährdetsten Schutz geben und dann die Schritte für weitere Maßnahmen festlegen und umsetzen. Der Flüchtlingsstrom war schon vor dem 4. September da, der Tag, an dem die Kanzlerin zum zweiten Mal erklärt hat: Wir schaffen das. Sie begreift das auch als Teil unserer deutschen Identität, dass wir stark sind und große Aufgaben leisten.

Es scheint, als sei die Gesellschaft zweitgeteilt.

Das ist so, aber ich habe gleichzeitig lange nicht mehr eine so positive Erfahrung von Solidarität in unserer Gesellschaft erlebt. Quer durch die Altersgruppen haben alle geholfen. Das war und ist der helfende und ordnende Einsatz für Menschlichkeit und Menschenwürde. Dafür kann man nur dankbar sein.

Gleichzeitig gab es seither 1000 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

Es gibt sie, diese hässlichen, inakzeptablen Gegenkräfte. Die gipfelten in dem Vorschlag, notfalls auch auf Frauen und Kinder an der Grenze zu schießen. Mit der Aussage 'Wir schaffen das' ist noch nicht das Fremdenfeindliche beseitigt.

Trotz der bedrückend hohen Anzahl von Anschlägen spricht sich die große Mehrheit der Bevölkerung dafür aus, dass wir Menschen in Not helfen.

Was halten Sie von den Forderungen aus Bayern nach einer Obergrenze und der sofortigen Abschiebung von abgewiesenen Asylbewerbern?

Vieles ist schnell gesagt, etwa: Dann schieben wir eben ab. Aber es ist schwierig in der Umsetzung, weil die Herkunftsländer sich weigern, ihre straffällig gewordenen oder nicht asylberechtigten Bürger wieder aufzunehmen. Und der Gegensatz, der da aufgebaut wird, ist künstlich: Es trifft nicht zu, dass Angela Merkel die Tür für alle öffnet, dass sie gegen eine Begrenzung und Ordnung arbeitet. Woran arbeitet sie denn Tag und Nacht? Von Anfang an hat sie gesagt: Wir brauchen eine Senkung der Flüchtlingszahlen und Solidarität in der EU, dies schließt eine faire Verteilung der Flüchtlingszahlen auf die EU-Mitgliedstaaten mit ein.

Es gibt Grenzen der Belastung, aber diese lassen sich nicht beim Asyl in Zahlen ausdrücken. Wenn man eine Obergrenze von 200 000 Menschen fordert, dann frage ich mich, was macht man mit der Mutter und ihrem Kind, die ganz eindeutig verfolgt und von Tod bedroht sind?

Was hilft die Ethik, wenn wir nicht damit fertig werden?

Das setzt nicht die ethischen Prinzipien außer Kraft. Es verlangt vielmehr, ständig zu prüfen, wo und wie wir ihnen gerecht und nicht gerecht geworden sind. Ich erinnere nur an das Sterben im Mittelmeer. Dazu gehört auch die komplizierte Abwägung, was hat gleichberechtigte Geltung oder verlangt eine persönliche Gewissensentscheidung in der Auseinandersetzung der grundgesetzlichen Verpflichtung gegenüber dem Wohl des Landes und seiner Menschen und dem besonderen Schutz der Flüchtlinge.

Erwarten Sie, dass sich die Angst vor den Fremden in den Ergebnissen der anstehenden Landtagswahlen niederschlägt?

Das kann ich nicht ausschließen. Aber da sind wir auch nicht ohnmächtig. Es verlangt von der politischen Führung, aber auch von jedem von uns eine klare Positionierung zu den Werten, auf die wir nicht verzichten können. Dazu gehören Respekt vor jedem Menschen, gleich welcher Kultur, Religion oder welchen Geschlechts. Ich füge hinzu, dazu gehört der Mut, im Umgang mit Menschen Grenzen zu setzen und nicht zu akzeptieren, was aufgrund des uns verpflichtenden Grundgesetzes nicht zu tolerieren ist.

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