Süddeutsche Zeitung

Migration:Die Türkei erlebt eine neue Auswanderungswelle

Lesezeit: 2 min

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Arife Vildan hält eine Geige in der Hand, der Wind zupft an ihren langen offenen Haaren, das Mädchen aus Istanbul ist live auf Sendung, im regierungstreuen türkischen Sender NTV. Was sie in ihrem "akademischen Leben" einmal machen wolle, fragt die Moderatorin die Schülerin mit der runden Brille. Die sagt: "Ich will in Deutschland an der Universität Köln Medizin studieren und dann vielleicht Deutsche werden." Der Moderatorin entfährt ein "Nein", es klingt wie ein spitzer Schrei.

Denn was die selbstbewusste Schülerin da vor laufender Kamera gesagt hat, berührt ein türkisches Tabu: Es gibt eine neue Auswanderungswelle, und es sind nicht - wie vor einem halben Jahrhundert - Menschen aus anatolischen Dörfern, die Arbeit in deutschen Fabriken suchen. Die neuen Migranten streben an Universitäten, sie stimmen mit den Füßen gegen ihre Heimat ab, in der sie keine Zukunft sehen. Welche Motive Arife Vildan hat, weiß niemand, aber sie ist Teil eines Trends.

Deutsche Sprachlehrer in Istanbul berichten, sie könnten sich vor Anfragen nicht mehr retten, das gilt auch für das Goethe-Institut. Vor allem Akademiker wollen weg, Ärzte, Ingenieure, Computerfachleute. Ein junger Arzt sagte der Süddeutschen Zeitung: "Ich gehe nicht wegen des Geldes, ich verdiene hier genau so viel wie in Deutschland." Es sind die politischen Umstände, die der Mann beklagt, weshalb er in der Zeitung auch namenlos bleiben will. Schon wegen ein paar Tweets, in denen Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisiert wird, wurden Menschen festgenommen. Der Mann sagt: "Dass bei uns Wikipedia gesperrt ist, ist doch verrückt."

Der Exodus trifft die türkischen Universitäten, wo zuletzt ohnehin viele Forscher entlassen wurden. Denen warf man entweder Sympathien für die Putschisten vom 15. Juli 2016 vor, oder für die verbotene kurdische PKK. Ein Politikprofessor, der eine Weile im Gefängnis verbringen musste, erzählt, sein Sohn sei mit Frau und Kind nach London gezogen. Der Professor selbst hat Reiseverbot. Ein anderer Professor hat in Istanbul seine Wohnung verkauft, er lebt nun in Griechenland. Es gibt viele solche Geschichten jetzt.

Der Verlust von Akademikern ist wohl doch zu schmerzhaft

Erdoğan wetterte schon im März 2018 gegen die Auswanderer: "Wir sollten ihre Tickets bezahlen und sie ins Flugzeug setzen. Solche Bürger sind nichts als eine Last für unser Land." Und denen, die ihr Kapital außer Landes brächten, würde man "nicht vergeben". Nach Zahlen des türkischen Statistikamts zogen 2017 mehr Türken weg als zu: genau 11 554. Im Jahr davor sah es noch anders aus, da kehrten 37 726 mehr Menschen in die Türkei zurück als weggingen.

Inzwischen ist der Verlust von Akademikern wohl doch zu schmerzhaft geworden, schließlich möchte die Türkei selbst Hochtechnologieland werden: Rückkehrern in gefragten Branchen werden Sondergehälter versprochen. Davon lassen sich bislang nur wenige locken. Eine Journalistin, die vor Kurzem nach Istanbul zurückkehrte, sagt: "Meine Freundinnen halten mich deshalb für verrückt."

Der Abgeordnete der regierenden AKP, Mustafa Yeneroğlu, der in Deutschland aufgewachsen ist, twitterte nach dem Auftritt von Arife Vildan: "Wenn eines unserer Kinder, das mit Hoffnung auf die Welt schaut", so spreche, "dann muss uns Politiker das zum Nachdenken bringen". Er gab den Migranten in spe aber noch mit: So einfach sei das Leben im Ausland auch nicht. Sein Parteikollege Burhan Kuzu warf dagegen der Opposition vor, sie mache die Türkei dauernd schlecht, das "nimmt unseren Kindern die Hoffnung". Ein Nationalist twitterte: Das Mädchen solle "abhauen". Ein anderer forderte, sich die Eltern näher anzuschauen, ob sie "Verräter" seien.

Arife Vildan lebt in einem Istanbuler Waisenhaus. Weil sie die Beste ihrer Schule ist, kam sie zu dem Fernsehauftritt am nationalen "Kindertag" der Türkei.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4421972
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 26.04.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.