Süddeutsche Zeitung

Migration:Marokko öffnet die Grenze und setzt Spanien unter Druck

Rund 8000 Migranten schwimmen binnen zweier Tage nach Ceuta. Dort kommen sie zwar nicht weiter, aber für die marokkanische Regierung ist das zweitrangig.

Von Karin Janker, Madrid

Wie groß die Sehnsucht nach Europa ist, zeigt sich auch daran, wie viele Menschen bereit sind, alles zurückzulassen und sich nur mit dem, was sie buchstäblich am Leib tragen, ins Meer zu stürzen. Tausende Menschen sind von Marokko aus in die spanische Exklave Ceuta geschwommen; etwa 8000 kamen nach offiziellen Angaben im Laufe des Montags und am Dienstag in der Stadt an, die zur EU, aber nicht zum Schengenraum gehört. Kaum jemand von ihnen dürfte es von dort aus weiter auf die iberische Halbinsel schaffen. Und dennoch: Viele der Menschen küssten, als sie am Strand von Benzú im Norden oder Tarajal im Süden Ceutas ankamen, den Boden.

Szenen wie diese kannte Ceuta bislang nicht. Die Stadt mit ihren 85 000 Einwohnern ist von Marokko durch einen mehrfach befestigten Grenzzaun getrennt, der bis ins Meer hineinragt. Höchstens ein paar Dutzend Menschen war es in der Vergangenheit immer wieder gelungen, diesen Zaun zu überwinden. Die meisten von ihnen wurden sofort aufgegriffen und ohne Prüfung ihrer Fälle und ihres etwaigen Anspruchs auf Asyl wieder abgeschoben. Ein Vorgehen, das von Menschenrechtsorganisationen kritisiert wird. Es betraf vergleichsweise wenige Menschen: Im Vorjahr waren insgesamt 770 Migranten in Ceuta angekommen, im Jahr 2019 waren es insgesamt 2000 Menschen gewesen.

Diesmal ist es anders: Etwa ein Viertel der Angekommenen vom Montag und Dienstag seien Minderjährige, heißt es von spanischen Behörden. Auch Frauen mit Babys seien unter ihnen. Ein Mensch war in der Nacht zum Dienstag ums Leben gekommen, Polizisten hatten mehrere erschöpfte Kinder aus dem Wasser gezogen. Die Mehrheit der Angekommenen seien Männer aus Marokko, einige kämen auch aus Mali, Mauretanien oder Senegal. In Ceuta wurden die Angekommenen zunächst in ein Stadion gebracht, die Minderjährigen wurden vom Roten Kreuz in einem völlig überfüllten Auffanglager versorgt.

Als Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska am Dienstagmittag vor die Presse trat, sagte er, dass Spanien knapp die Hälfte der Angekommenen bereits wieder abgeschoben habe. Gleichzeitig stelle man sicher, dass es sich bei den Abgeschobenen nicht um Minderjährige handele, die besonderen Schutz verdienten. Nun gehe es darum, diese Krise auf mehreren Wegen anzugehen. Einer davon sei die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, so Marlaska.

Die EU verspricht "Unterstützung und Solidarität"

Mehrere Vertreter der EU haben auf diesen Hilferuf bereits reagiert. EU-Ratspräsident Charles Michel etwa drückte Spanien seine "Unterstützung und Solidarität" aus. Es handle sich um eine europäische Herausforderung, die zwischen der EU und Marokko gelöst werden müsse. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sieht ebenfalls die EU in der Pflicht. Nötig seien "sofortige Verhandlungen" mit Marokko. "Nur durch die hohen Zäune, durch die Grenzsicherheit, sind die Probleme in Marokko, in der Maghreb-Region nicht gelöst", sagte Müller.

Der schwelende Streit mit Marokko hatte überhaupt erst zu den Szenen vom Dienstag geführt: Die Migranten konnten die Grenze nach Ceuta ungehindert passieren, weil auf marokkanischer Seite keine Grenzposten sie daran hinderten. "Marokko bestraft Spanien", schrieb die spanische Zeitung El Mundo: Die diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern spitzte sich zu, als vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass in einem spanischen Krankenhaus derzeit ein Mann behandelt wird, der von marokkanischer Seite als politischer Feind angesehen wird: Brahim Ghali, Chef der Unabhängigkeitsbewegung Polisario.

Ghali kämpft seit Jahrzehnten für die Unabhängigkeit der Westsahara. Große Teile des an Bodenschätzen reichen Gebiets werden von Marokko kontrolliert. Es kommt immer wieder zu Gefechten zwischen Polisario und Marokko, erst Anfang April war ein ranghoher Polisario-Offizier bei einem Drohnenangriff getötet worden. Seither kursieren Gerüchte, wonach auch Brahim Ghali bei dem Angriff verletzt wurde und diese Verletzungen der Grund für die medizinische Behandlung in Spanien sein könnten. Eine Bestätigung gab es dafür nie, nach offiziellen Angaben wurde der 71-Jährige wegen einer Covid-Erkrankung in die Klinik aufgenommen.

Doch die Causa Ghali ist höchstens aktueller Anlass und nicht Ursache für die Verstimmungen. Schwerer wiegen die Folgen einer der letzten Amtshandlungen Donald Trumps: Als der damals bereits abgewählte, aber noch amtierende US-Präsident im Dezember Marokkos Souveränität über das Gebiet der Westsahara anerkannte, befeuerte er den Konflikt. Polisario verschärfte daraufhin seine Angriffe auf marokkanische Stellungen. Und in Marokko wuchs die Erwartung, dass sich der US-amerikanischen Erklärung europäische Länder, insbesondere Spanien, anschließen mögen. Auch Deutschland sah sich zuletzt in den Konflikt verwickelt, Anfang Mai wurde die marokkanische Botschafterin aus Berlin abberufen.

Spanien, das die Westsahara bis 1975 als Kolonie besetzt hatte, ist jedoch darauf bedacht, sich in dem Streit auf keine Seite zu schlagen. Marokko nutzt diese diplomatische Schwäche, um dem Land immer wieder Zugeständnisse abzupressen. Der Migrationsdruck, der sich auf marokkanischer Seite des Grenzzauns anstaut, erscheint Rabat wiederholt als eines der wirksamsten Mittel. Auch die im Herbst und Winter stark angestiegene Zahl der Flüchtlingsboote, die die Kanaren erreichten, konnten an der marokkanischen Küste vor allem deshalb ablegen, weil sie dort durchgelassen wurden.

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