Noël Hounkpatin hat für die ihm folgenden kritischen Blicke keine Zeit. Der 25-Jährige aus der Elfenbeinküste und seine beiden Freunde Koffi und Seka sind in der Medina von Sfax auf der Suche nach günstigen Mobiltelefonen. Ihre Smartphones waren ihnen Anfang der Woche von tunesischen Jugendlichen abgenommen worden. "Sie kommen meist zu viert auf zwei Rollern angefahren und nehmen uns Migranten in aller Öffentlichkeit und ohne viele Worte ab, was sie gebrauchen können", sagt Hounkpatin schulterzuckend.
Telefone sind für die Migranten die einzige Verbindung zur Heimat - und zu den Schmugglern, die entlang der Küste zwischen Sfax und der Kleinstadt La Louza Abfahrten nach Italien anbieten. Noël Hounkpatin will wie fast alle der 10 000 in Sfax lebenden Migranten nur eins: Mit dem Boot nach Europa.
Noch vor wenigen Monaten waren die drei in Tunesiens umtriebiger Handelsstadt durchaus willkommen. Auch wer länger als die für Touristen erlaubten drei Monate im Land blieb, fand im Handumdrehen Arbeit und eine Mietwohnung. Das etwas gesichtslose Sfax ist das Rückgrat der tunesischen Wirtschaft, der es wegen der Emigration der tunesischen Jugend nach Europa an Arbeitskräften fehlt. Von Tunis erreicht man die 330 000-Einwohner-Stadt nach drei Stunden Autofahrt über den "Trans-African Highway". Tunesier belächeln gerne die nüchterne Zielstrebigkeit der Einwohner und die schlichte Funktionalität der wohlhabenden Stadt.
Seit dem 21. Februar fühlen sich Afrikaner ohne Schutz durch den Staat
Vielleicht sind es gerade diese Eigenschaften, die Sfax zum Ziel zahlreicher libyscher Familien, von mehr als 4000 Studenten aus den französischsprachigen Ländern Afrikas und von Arbeitssuchenden aus der ganzen Welt gemacht haben. "Zwar sind die Löhne niedrig, aber die Lebenshaltungskosten auch", sagt Noël Hounkpatin nachdenklich und dreht mit den Fingern Zöpfe in seinen Bart. "Man konnte es hier gut aushalten."
Bis zum 21. Februar, dem Tag, der das Leben der Migranten und vieler Geschäftsleute in Sfax auf den Kopf stellte. Es war später Nachmittag, als Präsident Kais Saied vor laufenden Kameras und den Generälen des "Nationalen Sicherheitsrates" die in Tunesien lebenden Migranten aus West-und Zentralafrika als eine Verschwörung gegen das Land bezeichnete. Gewisse Mächte wollen durch die vielen illegal in Tunesien lebenden Afrikaner den Islam und die arabische Identität Nordafrikas schwächen, so Saied in düsterem Ton.
Zwei Stunden später begann die Polizei in Sfax mit einer Verhaftungswelle, die zunächst auch Studenten mit Aufenthaltserlaubnis ins Gefängnis brachte. Saieds Kritiker interpretieren seine Rede als Versuch, von der dramatisch gesunkenen Zustimmung für seinen Staatsstreich im Sommer 2021 abzulenken. "Wir haben es einfach nur als Startschuss zu einer Welle der Gewalt erlebt", sagt Noël Hounkpatin. "Viele Tunesier hatten vielleicht schon vorher Vorurteile und uns nur als günstige Arbeitskräfte akzeptiert", sagt der gläubige Muslim. "Aber am 21. Februar ist weggefallen, was uns Afrikaner bis dahin vor Übergriffen geschützt hat: Gesetze und der Schutz der Behörden."
Mindestens die Hälfte der aus Mali, der Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, dem Kongo und vielen anderen Ländern kommenden Menschen haben Sfax seitdem verlassen, schätzen die Experten der Bürgerinitiative Terre d'Asile, die sich während dieser größten humanitären Krise seit der Revolution um Migranten kümmert. "Die Hälfte davon flog wieder in die Heimat, mindestens 20 Prozent stiegen aber in die Boote nach Italien", bestätigen Hounkpatin und seine Freunde.
Die Telefonnummern der Schleuser finden sich schnell in sozialen Medien
Die nächste Welle von Landungen auf Lampedusa und Sizilien prophezeien sie für das kommende Wochenende, wenn die Temperaturen in Sfax auf 27 Grad steigen werden. Mehr als 3000 Migranten rettete die italienische Küstenwache bereits am 25. März, als die Wellen auf dem Mittelmeer erstmals in diesem Jahr auch die Fahrt mit Schlauchbooten zuließen.
Die meisten Menschen mit dunkler Hautfarbe, die man in Sfax trifft, stehen sichtlich unter Stress. "Ich habe meine Arbeit verloren. Muss aber 450 Dinar Miete zahlen, sonst sitze ich auf der Straße", sagt Mohamed aus Kamerun, der sich auf dem Markt mit dem Verkauf von Obst durchschlägt und seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Zusätzlich zu den umgerechnet 120 Euro Mietkosten müsse er noch 1000 Euro für die Überfahrt nach Italien und 150 Euro für Lebensmittel pro Monat aufbringen. "Aber wir haben alle unsere Jobs verloren, da es nun illegal ist, Migranten anzustellen."
Nachdem Noël Hounkpatin sein Smartphone eingerichtet hat, ruft er einen der vielen Schmuggler an, die entlang der Strände nördlich von Sfax ihre Dienste anbieten. Ihre Nummern und die Details zu den Abfahrten sind auf Facebook- oder Instagram-Seiten für jeden einsehbar.
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Die Schmuggler, oft Fischer aus der Gegend, dirigieren die Migranten wenige Tage vor der Abfahrt an einen bestimmten Kilometerpunkt an der Landstraße. "Dort wird man abgeholt und drei Tage am Außenbordmotor und in Navigation trainiert", sagt Mohamed. "Wenn wir alle weg sind, wird hier eine große Wirtschaftskrise ausbrechen", sagt er. "Ich erhalte jeden Tag heimliche Jobangebote, aber ich will keinen Ärger mit der Polizei."
Viele tunesische Ladeninhaber haben sich der offiziellen Sprachregelung des Präsidentenpalastes angeschlossen. "Das alles ist nur ein Missverständnis", sagt der Besitzer des Cafés "Duo Clubs", in dem viele Migranten als Bedienungen angestellt waren und auch als Kunden dorthin kamen. Kritik am Präsidenten möchte er nicht äußern, aber wie es ohne die oft unter Mindestlohn bezahlten Migranten weitergehen soll, weiß er auch nicht.
Wegen der wohl größten Wirtschaftskrise nach der Unabhängigkeit Tunesiens stehen nicht nur viele Restaurants und Fabriken vor der Pleite, sondern auch der Staat selbst. Doch Präsident Saied sträubt sich, einen vom Internationalen Währungsfonds angebotenen Kredit anzunehmen. Denn damit verbunden wäre eine Reform und ein Abbau des seit 2011 aufgeblähten Beamtenapparates, der Machtbasis von Kais Saied.
Am Montag hat der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune angeboten, mit mehren Golfstaaten Tunesien einen Kredit zu gewähren. Aus dem Präsidentenpalast ist zu hören, dass die Kreditverhandlungen Saieds mit den Machthabern in Moskau und Peking angeblich kurz vor dem Abschluss stehen. Damit dürfte die in EU-Kreisen wieder aufgebrachte Idee von Asylzentren in Nordafrika Vergangenheit sein. "Auch viele Tunesier sind unglücklich über den Populismus gegen uns", sagt Noël Hounkpatin. "Das schadet doch ihrem Land. Die Migration nach Europa wird die Kampagne zumindest nicht stoppen. Denn wir haben in unserer Heimat nichts, das uns hält."