Es sind nur 67 Migranten, die an diesem Mittwoch mit einem Linienflug der Ethiopian Airlines aus Addis Abeba auf dem römischen Flughafen Fiumicino eintreffen sollen. Aber sie stehen als Symbol für eine Alternative zum gefährlichen und häufig tödlichen Fluchtweg übers Mittelmeer nach Europa.
Die in Rom gegründete und in zahlreichen Ländern tätige katholische Laienorganisation Communità di Sant'Egidio hat das Verfahren 2015 entwickelt, es wird von den italienischen Kirchen und der Caritas, aber auch vom Innen- und vom Außenministerium unterstützt: die sogenannten humanitären Korridore.
Das Projekt nutzt eine spezielle Vorschrift des europäischen Rechts (Artikel 25 der Verordnung Nr. 810/2009), die den EU-Staaten die Möglichkeit gibt, neben dem üblichen Asylrecht humanitäre Visa mit begrenztem Geltungsbereich auszustellen. Bedacht werden besonders Schutzbedürftige: Familien ohne Väter, Mütter mit vielen oder kranken Kindern, Opfer von Gewalt und Menschen mit Behinderung. Sie erhalten ohne Ansehen ihrer Asylberechtigung Visa und werden auf normalen Linienflügen nach Italien gebracht, wo sie in Zusammenarbeit mit Kirchen, Vereinen, Gruppen und Privatpersonen über das Land verteilt untergebracht werden.
Sobald die Erwachsenen als Flüchtlinge anerkannt sind, erhalten sie Arbeitsplätze
Insgesamt haben bisher 6800 Menschen, vor allem Kinder, auf diesem Weg Europa erreicht. Das ist eine kleine Zahl im Vergleich zu den vielen Zehntausend Verzweifelten, die in Afrika darauf warten, nach Europa übersetzen zu können. Bei Sant'Egidio ist man aber überzeugt: Würde dieses Projekt der Zivilgesellschaft im großen Stil staatlich flankiert und in immer mehr Ländern Anwendung finden, könnte eine viel größere Zahl von Menschen gerettet und der Weg übers Meer vermieden werden.
Seit Beginn des Jahres haben bereits mehr als 35 000 Migranten Italien über den Seeweg erreicht - im Vorjahreszeitraum waren es rund 8600. Allein übers Wochenende kamen wieder mehr als 1200 Menschen auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an, das Meer ist voll von großen und kleinen Schiffen, die Infrastruktur ist völlig überlastet.

Mittelmeer:441 tote Migranten in drei Monaten
In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 sind so viele Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben wie seit 2017 nicht mehr.
Immer wieder gehen Boote unter, einige Schiffbrüchige können gerettet werden, viele auch nicht. Zwischen Freitag und Montag hatte Tunesiens Marine vor der Küste des nordafrikanischen Landes 70 Leichen geborgen. Die Menschen stammten, heißt es, wahrscheinlich aus Ländern südlich der Sahara.
Die 67 Personen eritreischer und südsudanesischer Nationalität, die an diesem Mittwoch in Rom ankommen sollen, sind seit einiger Zeit als Flüchtlinge in Äthiopien. Die meisten Neuankömmlinge werden bei Verwandten untergebracht, was die Integration erleichtert. Die Minderjährigen werden sofort eingeschult, die Erwachsenen erhalten Sprachunterricht und später, sobald sie als Flüchtlinge anerkannt sind, Arbeitsplätze.
Die Ankunft in Rom wird öffentlichkeitswirksam gestaltet. Es gibt eine Pressekonferenz und Reden von Vertretern der Initiative, aber auch von Vertretern des Innen- und Außenministeriums. Das kontrastiert zur scharfen offiziellen Linie der Regierung. Denn die reagiert auf die neue Flüchtlingswelle vor allem mit: Druck.
Wegen des Arbeitskräftemangels fordert die Wirtschaft mehr Integration von Ausländern
"Es kann nicht sein, dass Italien das neue Flüchtlingszentrum Europas wird", wiederholt Ministerpräsidentin Giorgia Meloni unermüdlich und ihr Vertrauter und Schwager, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, warnte vielbeachtet und vielkritisiert vor einem "ethnischen Bevölkerungsaustausch". Vor zwei Wochen hat die Regierung den nationalen Notstand ausgerufen, um Maßnahmen per Verordnung beschließen zu können. Es gibt jetzt einen Sonderbeauftragten für Migration, es sollen im ganzen Land neue Lager und Abschiebezentren eröffnet werden.
Der nächste Schritt ist eine Gesetzesänderung, die den "besonderen Schutz" für Geflüchtete aufheben wird, den die Regierung des parteilosen Mario Draghi eingeführt hatte. Meloni argumentiert, dieses Recht gebe es nur in Italien. Dem widersprechen die Gemeinschaft Sant'Egidio und die Kirchen entschieden.

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Ohne den besonderen Schutz werde es für Migranten schwieriger, im Land zu bleiben, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird. Genau das ist auch das erklärte Ziel der Regierung, die auf Abschiebung und Abschreckung setzt.
Es widerspricht allerdings den Forderungen aus der Wirtschaft, die angesichts der schrumpfenden Bevölkerung und des Arbeitskräftemangels eine verstärkte Integration von Ausländern fordert. So verweisen die Organisatoren der "humanitären Korridore" darauf, dass gerade ihr Modell im Kleinen zeige, dass Integration funktioniere - wenn man sie richtig begleite.