Asylrecht:Im Dickicht des Rechts

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Tiefe Trauer: Am Abend der Tat zeigen Menschen am Schauplatz des Anschlags in München ihre Anteilnahme. (Foto: Ebrahim Noroozi/AP)

Die Aufenthaltsregeln für Asylbewerber in Deutschland sind kompliziert. Eindeutig ist aber: Der Attentäter von München war völlig legal im Land.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die furchtbare Tat von München unterscheidet sich von den Anschlägen in Solingen und Mannheim, in Magdeburg und Aschaffenburg, aber eine Frage wurde an all diesen Orten gestellt. Hätte der jeweilige Täter überhaupt noch in Deutschland sein dürfen? Wäre das Verbrechen nicht vermeidbar gewesen, durch konsequente Abschiebung oder am besten gleich durch die Vermeidung der Einreise?  Die Antwort führt ins Dickicht des deutschen Ausländer- und Asylrechts, das gern als Hindernis einer kategorischen Anti-Migrationspolitik kritisiert wird.

Richtig daran ist: Das System aus Aufenthaltstiteln und Abschiebemöglichkeiten ist in der Tat schwer zu durchdringen. Das liegt an den verästelten und unablässig nachjustierten Paragrafen, es liegt aber auch an der komplexen Wirklichkeit der Fluchtländer, in der es eben nicht nur schwarz oder weiß gibt, raus oder rein. Am Beispiel des mutmaßlichen Täters von München, der mit dem Auto in eine Kundgebung raste und viele Menschen zum Teil schwer verletzte, lässt sich zeigen, wie Flüchtlinge in ein diffuses Niemandsland zwischen Bleiberecht und Rückführung geraten.

Aus Afghanistan kommen besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland, mehr als 36 000 Asylanträge zählte man 2024. Die Anerkennungsquote ist relativ hoch. Mehr als 14 000 wurden als Flüchtlinge oder Asylberechtigte anerkannt, ein kleiner Teil wurde zudem als „subsidiär schutzberechtigt“ anerkannt, ein weniger starker Schutztitel, der oft an Bürgerkriegsflüchtlinge vergeben wird.

Doch es gibt eine zweite Zahl, sie ist noch höher: Bei fast 17 000 Afghanen wurde ein Abschiebeverbot festgestellt. Sie dürfen bleiben, auch ohne Flüchtlingsstatus, zumindest vorerst – oft, weil sie in Afghanistan gravierenden Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt wären. Zwar gab es vergangenes Jahr erste Tendenzen der Gerichte, Abschiebungen ins inzwischen etablierte Unrechtsregime der Taliban zuzulassen. Aber die allermeisten afghanischen Flüchtlinge haben ein Bleiberecht in Deutschland.

183 000 Ausländer leben als „Geduldete“ hier

Der 24-jährige Mann kam, nach allem, was man bisher weiß, Ende 2016 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland. 2020 wurde sein Asylantrag abgelehnt, mit dem Bescheid wurde er zur Ausreise aufgefordert. Aber im April 2021 erhielt er einen Duldungsbescheid – das ist eine weitere, ein wenig paradox anmutende Variante des Aufenthaltsrechts. Formal gesehen, war er ausreisepflichtig. Aber zugleich geduldet.

Es ist nicht auszuschließen, dass diese widersinnige Terminologie, die sich die Juristen ausgedacht haben, einen gewissen Beitrag zur Verwirrung über das Asylrecht leistet. Mitte 2024 hielten sich in Deutschland etwa 226 000 „vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer“ auf – aber fast 183 000 von ihnen wurden geduldet. Die Vollstreckung der Ausreise wurde also ausgesetzt. Das heißt: Sie halten sich zumindest vorübergehend rechtmäßig in Deutschland auf, wenngleich mit dem Label „ausreisepflichtig“ auf der Stirn.

Für eine solche Duldung, die eigentlich nur auf einige Monate angelegt sein sollte, gibt es bessere und schlechtere Gründe. Zur zweiten Kategorie gehört die fehlende Mitwirkung der Flüchtlinge an der Beschaffung von Reisedokumenten; allerdings sind es oft auch die Herkunftsländer, die jede Kooperation verweigern. Fehlende Papiere machen nach einer Aufstellung des Bundesamts für Ausländer und Migration von 2023  in 28 Prozent der Fälle eine Duldung notwendig.

Aber auch bei Krankheit werden Duldungen gewährt oder aus humanitären Gründen auf Geheiß einer Landesbehörde oder weil eine Abschiebung schlicht unmöglich ist. Und für Ausbildung und Beschäftigung. So war es im Fall des Afghanen aus München, der eine Schule besuchte und eine Berufsausbildung begann. Damit erklomm er eine höhere Stufe des Aufenthaltsrechts: Im Oktober 2021 erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis.

Mit einer Aufenthaltserlaubnis haben abgelehnte Asylbewerber den Korridor zwischen bleiben dürfen und gehen müssen noch nicht vollständig verlassen. Solche Bescheide sind befristet, aber verlängerbar. Das heißt: Die Chancen steigen, der drohenden Ausreisepflicht zu entkommen. In knapp einem Drittel der Fälle werden solche Erlaubnisse an gut integrierte Flüchtlinge vergeben, aber fast ebenso viele erhalten den Titel, weil die Ausreise rechtlich oder faktisch unmöglich ist – das System beugt sich den Tatsachen.

Und die Chancen steigen mit jedem Monat in Deutschland. Im ersten Jahr endet die Ausreisepflicht bei knapp einem Drittel der Betroffenen; die einen sind dann weg, die anderen bekommen doch noch ein Bleiberecht. Danach flacht sich die Kurve ab. Der prekäre Bleibestatus kann zu einer langen Hängepartie werden.

Solingen und Mannheim, Magdeburg, Aschaffenburg und jetzt München: Was wie eine gerade Linie aussieht, wird bei näherem Hinsehen zu einer Reihe sehr unterschiedlicher Fälle. Weder war in München ein psychisch hochgradig auffälliger Mensch am Werk wie in Magdeburg, noch ein vorbestrafter Täter, wie in Aschaffenburg. Der Attentäter von München hatte keine Straftaten begangen, sondern als Ladendetektiv geholfen, sie aufzuklären. Mit den Instrumenten des Ausländerrechts war sein Anschlag, nach allem, was man bisher weiß, wohl kaum abzuwenden.

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