Süddeutsche Zeitung

Migration:Kultur der Abschottung

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In seinem neuen Buch erklärt der Journalist Karl-Heinz Meier-Braun, warum die deutsche Flüchtlingspolitik einem üppig gestalteten Schaufenster ähnelt, dessen Laden immer geschlossen hat.

Rezension von Günter Beyer

Ein Schwarzbuch ist laut Duden eine "Missstände, Verbrechen oder andere negativ zu bewertende Sachverhalte dokumentierende Publikation". Wer etwa als Beamter eine öffentliche Investition verantwortet und im jährlich erscheinenden "Schwarzbuch" des Bundes der Steuerzahler auftaucht, sollte sich warm anziehen.

Von einem "Schwarzbuch Migration" ist also kein Lobgesang auf die deutsche Einwanderungspolitik zu erwarten. Buchautor Karl-Heinz Meier-Braun, Journalist und ehemaliger Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks, geht weit zurück bis in die Gründerjahre der Bundesrepublik, um die Kontinuität der "dunklen Seite unserer Flüchtlingspolitik" anzuprangern. Seit der Aufnahme "heimatvertriebener" Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute war Deutschland immer wieder Ziel umfassender Migrationsbewegungen. Dazu gehört die Anwerbung von "Gastarbeitern" aus Südeuropa, die Aufnahme von Zuwanderern nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren und nicht zuletzt die anhaltende Migration aus Bürgerkriegs- und Armutsregionen. Die im Herbst 2015 proklamierte "Willkommenskultur" stellt allerdings laut Meier-Braun keineswegs eine grundsätzliche Abkehr von einer Jahrzehnte währenden Politik der Abschottung dar. Die offenen Grenzen von damals stellten eine "absolute Ausnahmesituation" aus humanitären und kurzfristig taktischen Erwägungen dar. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière erklärte, er habe "uns und der deutschen Öffentlichkeit nicht zugetraut, gegebenenfalls sehr hässliche Bilder von Zurückweisungen von Zehntausenden durchzuhalten und auszuhalten."

Bereits in den 1970er-Jahren, als die Zahl der Asylbewerber noch unter 100 000 Personen pro Jahr lag, hetzten Politiker gegen "Asylantenflut", "Asylmissbrauch" und "Scheinasylanten". Besonders vor Wahlen überbot sich die Politik in hektischen Maßnahmen: Das Asylrecht wurde ausgehöhlt, ein einjähriges Arbeitsverbot für Asylbewerber eingeführt, Rückführungen - freiwillig oder in Handschellen - angekündigt und exekutiert, Länder zu "sicheren Drittstaaten" erklärt, in denen angeblich politische Verfolgung nicht existiere. Auch Horst Seehofers "Obergrenze" für die Aufnahme von Migranten ist eine alte Bekannte. Sie lag in den 1980er-Jahren noch bei 100 000 Zuwanderern. Meier-Braun benennt den Widerspruch mit einem Bild: "Im Schaufenster steht ein großzügiges Asylrecht, aber das Geschäft ist permanent geschlossen."

In Libyen, konstatiert der Autor, habe sich die Europäische Union "versündigt"

Die deutsche Gesellschaft hatte sich mit der Lebenslüge: "Wir sind kein Einwanderungsland!" eingerichtet. Trotz aller gesetzlichen Verschärfungen: Der Zustrom von Asylbewerbern riss nicht ab. Meier-Braun schildert zutreffend, wie Bundesregierung und Europäische Kommission inzwischen durch Abkommen mit Staaten in Afrika die Grenzen der EU immer weiter hinausschieben, um schon im "Vorfeld" Einwanderungswillige abzuschrecken. Dazu werden in Transitstaaten Polizei und Militär ausgebildet und mit neuester Technik aufgerüstet. Besonders schlimm ist die Situation in Libyen, wo Milizen Flüchtlinge in Privatgefängnisse sperren, foltern, töten oder Boote am Übersetzen übers Mittelmeer hindern. In Libyen, konstatiert der Autor, habe sich die EU "versündigt".

Meier-Braun kritisiert, dass Flüchtlingspolitik und Zuwanderungspolitik häufig "in einen Topf geworfen" werden und unterstützt die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz. Solange es das nicht gebe, bleibe für die Betroffenen als einziger Zugang zum abgeschotteten Arbeitsmarkt nur das Asylverfahren. Und fraglos braucht die Wirtschaft angesichts unbesetzter Stellen qualifizierte Zuwanderung.

Meier-Brauns Philippika liest sich wohltuend, weil ohne Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten geschrieben. Leider fehlen meistens Quellenangaben, und Fragen bleiben offen. Zum Beispiel, wie eine paranoide, womöglich wachsende Ausländer- und Migrantenfeindlichkeit gleichzeitig neben menschlich anständigem Engagement von Bürgern und Verwaltung in der Hochzeit der Willkommenskultur nebeneinander bestehen konnten. Warum Ungarn und Polen keinen einzigen Migranten aufnahmen und damit durchkamen. Und: ob es außer der dunklen auch eine helle Seite deutscher Flüchtlingspolitik gibt.

Karl-Heinz Meier-Braun gehört nicht zu denen, die die Öffnung aller Grenzen für alle fordern. Sein "Schwarzbuch" stößt allerdings am Schluss mit vagen, oft gehörten Verweisen auf die Machenschaften internationaler Konzerne und die ungerechte Weltordnung ins Wolkige. Letztendlich, schreibt der Autor, gehe es um die "innere Einstellung", um eine "Frage der Haltung".

Günter Beyer ist freier Journalist in Bremen.

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SZ vom 23.04.2018
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