Michail Gorbatschow: 80. Geburtstag:"Er machte viele Dinge zu spät"

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In Deutschland verehrt, in Russland verachtet: Der Schriftsteller György Dalos analysiert das Phänomen Michail Gorbatschow und erklärt, was den Erfinder der Perestroika von Boris Jelzin und Wladimir Putin unterscheidet.

Matthias Kolb

György Dalos studierte von 1962 bis 1967 in Moskau Geschichte und war damals ein "aufrichtiger, ehrlicher Kommunist". In den siebziger Jahren war der 1943 in Budapest geborene Schriftsteller regelmäßig auf Verwandtenbesuch in der Sowjetunion und kannte die Lage in der Provinz. Er gehörte zu den Mitbegründern der demokratischen Opposition in Ungarn, wanderte 1987 nach Wien aus und lebt heute in Berlin. Soeben erschien sein Buch "Gorbatschow. Mensch und Macht".

Der frühere sowjetische Staatspräsident Michael Gorbatschow steht im November 2002 vor dem Brandenburger Tor in Berlin. In Deutschland ist "Gorbi" viel beliebter als in Russland. (Foto: DPA/DPAWEB)

sueddeutsche.de: Michail Gorbatschow wird 80 Jahre alt. In Russland verachten ihn die Menschen, während er in Westeuropa verehrt wird. Warum wird er so unterschiedlich beurteilt?

György Dalos: Die Menschen in Russland haben in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren radikale Veränderungen durchleiden müssen. Der Kollaps der Sowjetunion bedeutete einen Einbruch des ohnehin niedrigen Lebensstandards. Das System, das Gorbatschow retten wollte, war nicht mehr zu retten, und das können die Russen ihm bis heute nicht verzeihen.

sueddeutsche.de: Hierzulande wird der Friedensnobelpreisträger gefeiert, weil er die Wiedervereinigung zuließ.

Dalos: In Deutschland wird Gorbatschow jeden Tag in den Himmel gehoben und in Russland in die Hölle gestoßen. Das hängt mit dem Paradox zusammen, dass er nicht nur die deutsche Einheit möglich machte, sondern auch die osteuropäischen Satellitenstaaten in die Freiheit entließ. Seine inneren Reformen wie Perestroika und Glasnost haben viel verändert, aber den Völkern Russlands keine Stabilität gebracht. Diktaturen können mit Stabilität sehr viele Menschen beruhigen. Das werden wir im arabischen Raum sehen: Es ist immer gut, wenn Diktatoren fallen, aber wenn es den Menschen danach nicht wirtschaftlich besser geht, wird es schwierig.

sueddeutsche.de: Ein Grund für Gorbatschows Aufstieg war sein Charisma und seine Persönlichkeit. Was unterschied ihn von der übrigen kommunistischen Elite?

Dalos: Es gab zwei Aufstiege in seiner Karriere. Zunächst wurde aus dem Bauernburschen nach dem Jurastudium ein Parteifunktionär in Stawropol. Ihm half seine Kommunikationsfähigkeit, denn im Gegensatz zu anderen hohen Kadern war Gorbatschow flexibel und konnte selbst die langweiligsten Parteidinge interessant darstellen. Er beeindruckte sogar Leute wie Margaret Thatcher, die nach dem ersten Treffen 1984 sagte: "Aus seinem Mund kamen die typischen sowjetischen Floskeln, aber sein Gesicht bewegte sich und er gestikulierte". Als Fazit der Eisernen Lady ist überliefert: "Mit ihm kann man Geschäfte machen".

sueddeutsche.de: Gorbatschow verkörperte also eine neue Generation.

Dalos: Die Schwäche der Spitzenkader war entscheidend beim Aufstieg an die Spitze der Macht. Der Rest der Elite bestand aus alten Männern, die viel Zeit auf Kur oder in Krankenhäusern verbrachten. Jurij Andropow, der 1982 die Macht übernahm, war nierenkrank und brauchte Dialysen. So kann niemand eine Supermacht regieren. Sein Nachfolger Konstantin Tschernenko war schon bei seiner Wahl todkrank und schon damals hat Gorbatschow die Sitzungen des Zentralkomitees der KPdSU geleitet. Als sein Vorgänger im März 1985 starb, war Gorbatschow konkurrenzlos und im Vollbesitz seiner Kräfte.

sueddeutsche.de: Wie gut kannte Gorbatschow die Situation der Sowjetunion, als er 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt war?

Dalos: Er wusste schon, was im Lande los war. Gorbatschow hatte als Student in einem Moskauer Wohnheim gelebt, er kannte die Zustände in der Provinz und wusste genau, wie schwierig es für die Menschen war, bestimmte Produkte zu kaufen. Gorbatschow war zwar ein überzeugter Kommunist, aber er war nicht so stark ideologisch geprägt wie die Vorgänger. Die waren völlig losgelöst von der Realität, hatten keinen Kontakt zu den Menschen und nicht mal Geld dabei.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow
:In Deutschland geliebt, in Russland verhasst

Selbst mit 80 Jahren ist Michail Gorbatschow noch ein Mann der polarisiert: Für die einen ist er der Vater von Glasnost und Perestroika, für andere der Totengräber der Sowjetunion.

sueddeutsche.de: Viele Experten waren damals schon überzeugt, dass das Riesenreich kaum mehr überlebensfähig war.

Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow hält nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eine Fernsehansprache. (Foto: Ap)

Dalos: Es gab vor allem zwei Probleme. Die Rüstung hat offen und als verdeckte Ausgabe ungefähr 40 Prozent des Budgets der UdSSR verschlungen. Und zu Gorbatschows Pech förderte Saudi-Arabien in den Jahren der Perestroika so viel Öl, dass der Weltmarktpreis sank. Also fehlten ihm die nötigen Petrodollars, um die sichtbarsten Mängel der Bevölkerung übertünchen zu können.

sueddeutsche.de: Wladimir Putin profitierte während seiner Präsidentschaft von den hohen Rohstoffpreisen und konnte sich so als Stabilisator präsentieren.

Dalos: Das stimmt. Das heutige Russland ist viel abhängiger von der Öl- und Gasbranche als es die UdSSR je war. Damals hatte Moskau eine eigene Währung und verwendete Dollars nur für den externen Handel. Es gab einen Konsens zwischen Staat und Bevölkerung: Die Preise durften nicht steigen. Es kam immer zu gewalttätigen Protesten, wenn Dinge teuer wurden. Die einzige Möglichkeit, mehr Geld für soziale Dinge zu haben, bestand für Gorbatschow also darin, dem Militär weniger zu geben. Er wollte Ruhe in der Außenpolitik und war deswegen zur Abrüstung bereit, wollte nicht mehr Milliarden an die Satellitenstaaten verschwenden und kündigte auch an, im Zweifel nicht mehr mit Panzern in Osteuropa intervenieren zu wollen.

sueddeutsche.de: Sehr schnell nach seinem Amtsantritt leitete er unter anderem eine Kampagne gegen den Alkoholmissbrauch ein. Warum?

Dalos: Die Trunksucht war damals ein riesiges Problem und sein Engagement in dieser Sache absolut berechtigt, auch wenn heute darüber gespottet wird. 1980 gab es 20 Millionen Sowjetbürger, die Alkoholiker waren. Es gab aber zwei große Fehler: Der Plan wurde von Jegor Ligatschow geleitet, der das Trinken ausrotten wollte anstatt den Menschen über 15 oder 20 Jahre einen maßvollen Umgang mit Alkohol nahezubringen. Der andere Fehler war, dass die Kampagne während des Jahres 1985 begann und so fehlten Milliardeneinnahmen, die bereits im Staatshaushalt eingeplant waren.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielte das Unglück von Tschernobyl am 26. April 1986?

Dalos: Das hat ihn schwer getroffen. Es war eine Kommunikationspanne, denn die Leute im Zentralkomitee waren stets ungenau informiert, denn niemand traute sich, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Der zweite Fehler war die verspätete Information der Bevölkerung durch Gorbatschow: Die Feierlichkeiten zum 1. Mai fanden ja trotzdem statt, was die Menschen empörte, als die Details bekanntwurden. Die Sowjetbürger waren an schlechte Nachrichten nicht gewöhnt: In den Medien wurde nicht über Flugzeugabstürze und Naturkatastrophen berichtet. Dass in den fünfziger Jahren die Atomanlage Tscheljabinsk explodiert war, wurde jahrzehntelang verschwiegen.

sueddeutsche.de: Sie arbeiten in Ihrem Buch auch andere Charaktereigenschaften heraus. Gorbatschow war demnach gut im Manövrieren und Lavieren, doch es fiel ihm schwer, Entscheidungen zu treffen.

Dalos: So war Michail Sergejewitsch, wobei ihm auch die Intrige nicht fremd war. Allerdings kannte er die Funktionäre zu gut und merkte schnell, dass er mit dieser Elite das System nicht ändern konnte. Aber er verfiel dem Irrglauben, dies mit neuen Leuten wie Außenminister Eduard Schewardnadse schaffen zu können. Das Unglück von Tschernobyl verdeutlichte Gorbatschow, dass er auch Informationsfreiheit zulassen musste, um Wissen zu bekommen. Gorbatschow war damals ein Mensch, der vieles wusste, aber noch wenig begriff.

sueddeutsche.de: Die Begriffe Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Veränderung) kennt heute jeder Schüler. Wieso ist Gorbatschow mit dem Konzept gescheitert?

Dalos: Er musste oft erleben, was heute viele Politiker sehen: Eine an sich richtige Entscheidung führt zu einem völlig anderen Ergebnis als gewünscht. 1986 entließ er den korrupten Parteichef in Kasaschstan, das war richtig, aber er setzte einen Russen ein und das führte fast zu einem Volksaufstand. Gorbatschow war kein großrussischer Nationalist, aber die nationalen Fragen, die im Kaukasus und im Baltikum entstanden, waren ihm fremd und er hat ihre Brisanz unterschätzt.

sueddeutsche.de: Fehlte ihm der unbedingte Machtwille eines Boris Jelzin, der sich immer mehr zu seinem Gegenspieler entwickelte?

Dalos: Boris Jelzin war in jeder Hinsicht, vor allem intellektuell, schwächer als Gorbatschow, aber er konnte sehr gut mit den einfachen Leuten. Jelzin hat nie gezögert, alles zu versprechen, was die Leute hören wollten. Die Intelligenzija, die ursprünglich für Gorbatschow war, hat irgendwann dessen halbherziges Regieren nicht mehr toleriert und einen radikaleren Führer gewollt. Jelzin spielte die russische Karte.

sueddeutsche.de: Hat Gorbatschow Jelzin unterschätzt?

Dalos: Das hat er und auch den Ratschlag des langjährigen Sowjet-Außenministers Gromyko ignoriert, Jelzin als Botschafter in die Ferne zu schicken. Gorbatschow hatte Pech mit der Zeit: Er machte viele Dinge einfach zu spät.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel geben?

Dalos: Die ersten Umfragen machten deutlich, dass die große Mehrheit seine Ideen von Glasnost und Perestroika unterstützten. Auch der Unionsvertrag, den er mit Jelzin schließen wollte, um die Sowjetunion zu erhalten, wurde von der Mehrheit der Menschen unterstützt. Aber die Umsetzung kam zu spät. Es gibt Leute, die den Zug verpassen oder ihn beinahe erreichen. Das Ergebnis ist das Gleiche, aber Gorbatschow hat es wenigstens probiert. Dann kam der Putsch im August 1991: Gorbatschow wurde auf der Krim festgehalten, doch die Putschisten scheiterten trotz der Unterstützung durch das Militär. Sie hatten kein politisches Programm und kein Gesicht. Also brach alles schnell zusammen, doch es nutzte nichts für Gorbatschow.

sueddeutsche.de: Stattdessen kam die Stunde von Boris Jelzin, der sich auf einen Panzer stellte und sich entsprechend inszenieren konnte.

Dalos: Das stimmt, aber es gibt auch eine persönliche Geschichte über den Menschen Gorbatschow. Als er mit seiner schwerkranken Frau Raissa und den Enkelinnen in Moskau ankam, wurde er gefragt, wohin der Tross fahren soll. Er sagte: Wir fahren auf die Datscha. Es ist natürlich nur eine Spekulation, aber wenn Gorbatschow vor dem Kreml die ersten Interviews gegeben und sich hätte feiern lassen, dann wäre seine Popularität nicht so schnell gesunken. Aber er entscheidet sich für die Familie, für Raissa und das beeindruckt mich sehr.

sueddeutsche.de: Welchen Eindruck hatten Sie von Gorbatschow, als er 1985 zum jüngsten Generalsekretär gewählt wurde?

Dalos: Ich wusste, dass die Sowjetunion große wirtschaftliche Probleme hatte, weil ich in den siebziger Jahren jedes Jahr wegen verwandtschaftlicher Beziehungen dort war, in der Provinz. Ich hatte viel Elend gesehen und war überzeugt, dass nur der KGB und die Armee das Land zusammenhielten. Mir war klar, dass die Satellitenstaaten irgendwann freikommen würden, aber ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde.

sueddeutsche.de: Sie hatten also keine Hoffnungen in ihn gesetzt?

Dalos: Nein, ich war das erste Mal von Gorbatschow beeindruckt, als er Ende 1986 die Verbannung des Menschenrechtlers Andrej Sacharow aufhob und ihn anschließend persönlich anrief. Der Mann hat Format, das dachte ich damals, denn selbst wenn es inszeniert war: Er begab sich auf Augenhöhe mit den Dissidenten. Wer so etwas macht, dachte ich, der wird andere Sachen wagen. Aber die Herausforderung, vor der er stand, war für einen Menschen nicht zu bewältigen.

sueddeutsche.de: Wie beurteilen Sie heute Gorbatschows Lebenswerk? Was bleibt von ihm?

Dalos: Der Frieden in Europa und - wenn auch unfreiwillig - die Auflösung der Sowjetunion hat er der Welt gebracht. Die Folgen seiner Politik sind für Russland weniger gut. Irgendwann werden auch die Russen seine Rolle ruhiger beurteilen - ich vermute, dass er weniger als Peter der Große geschätzt, aber auch weniger als Iwan der Schreckliche verdammt wird. Allerdings ist die Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht friedlicher geworden. Manchmal denke ich mir, die USA würden weniger unvernünftige Dinge tun, wenn es noch einen Gegenspieler gebe. Mit Breschnew oder Gromyko konnte man immerhin verhandeln, auch wenn nicht immer das optimale Ergebnis erreicht wurde. Mit Osama bin Laden geht das nicht mehr.

sueddeutsche.de: Gorbatschow kämpfte gegen Korruption, er wollte die Wirtschaft modernisieren und die Abhängigkeit von den Rohstoffen reduzieren. Das sind eigentlich die gleichen Probleme, die Putin und Medwedjew zu lösen haben.

Dalos: Russland ist Russland geblieben. Die Sowjetunion wird noch lange präsent bleiben. Putins autoritäres Auftreten erfüllt ein weitverbreitetes Bedürfnis nach Stabilität. Ich will das gar nicht verdammen, aber viele Menschen setzen weiter auf den Staat. Der Raubzug der Privatisierung, während der in den frühen neunziger Jahren viele Firmen unter die Kontrolle von Komsomol-Leuten wie Michail Chodorkowskij kamen, ist vorbei, und nun weist Putin in der zweiten Phase diese Leute in die Schranken. Die Mittel sind allerdings mehr als fraglich und rechtfertigen dieses Ziel nicht. Heute lässt man in Moskau Meinungsfreiheit und Pluralismus nur insoweit zu, wie es die Stabilität nicht gefährdet. Wie es weitergeht, das wird erst die nächste Generation erfahren. Die Leistung von Medwedjew und Putin ist in keiner Weise mit denjenigen Gorbatschow vergleichbar.

Die Biographie Gorbatschow. Mensch und Macht von György Dalos ist im C.H. Beck Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro.

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