MexikoDie Qual der Richterwahl

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Vergeblicher Protest: Zehntausende Justizangestellte und Bürger demonstrierten vergangenes Jahr gegen die Justizreform, hier vor dem Obersten Gericht in Mexiko-Stadt.
Vergeblicher Protest: Zehntausende Justizangestellte und Bürger demonstrierten vergangenes Jahr gegen die Justizreform, hier vor dem Obersten Gericht in Mexiko-Stadt. (Foto: VICTOR CRUZ/AFP)

Die Neubesetzung aller Richterposten wird in Mexiko nun in direkter Abstimmung von den Bürgern entschieden, an diesem Sonntag wählen sie zum ersten Mal. Das ist weltweit einzigartig – und höchst umstritten. Einige fürchten sogar, die Organisierte Kriminalität könnte so Einfluss nehmen.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Eigentlich sind es Richter, die normalerweise entscheiden über Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht, Gut oder Böse. In Mexiko wird dieser Mechanismus jetzt aber in Teilen umgekehrt. Denn die Amtsträger sind es nun selbst, über die entschieden wird, in einer Wahl, die so einzigartig ist auf der Welt, wie sie umstritten ist.

An diesem Sonntag sind die Mexikanerinnen und Mexikaner aufgerufen, über die Vergabe mehrerer Tausend Richterposten abzustimmen, an Regional- und Landesgerichten ebenso wie am Obersten Gerichtshof. Die aktuellen Amtsträger werden dann ersetzt durch jene Kandidaten, die bei der Abstimmung den größten Erfolg an den Urnen hatten.

Für Mexiko ist das ein Novum: Bisher gab es für Bezirksgerichte ein spezielles Auswahlverfahren, und wer am Obersten Gerichtshof saß, darüber entschied letztendlich der Senat. Bevor sie ihr Amt antraten, hatten Richter meist schon viele Jahre im Justizsystem gearbeitet, sie mussten Prüfungen ablegen, Anforderungen erfüllen. Nun aber reichen für eine Kandidatur ein Jurastudium und einige Jahre Berufserfahrung.

Mancherorts gibt es Dutzende Kandidaten, anderswo nur einen

Weltweit gibt es nur ein paar Länder, in denen Richter nicht ernannt, sondern gewählt werden: In den Vereinigten Staaten zum Beispiel können Bürger einzelner Bundesstaaten über die Besetzung der lokalen Gerichte entscheiden, ähnliche Abstimmungen gibt es auch in der Schweiz auf Kantonsebene. Am ehesten mit Mexiko vergleichbar ist Bolivien: Dort können die Wähler seit 2011 auch über Posten an höherrangigen Gerichten entscheiden, sogar am Obersten Gerichtshof. Diese Praxis ist aber hochumstritten wegen Einflussnahme der Politik und weil Machtkämpfe in der Vergangenheit dazu geführt hatten, dass Wahlen sich verzögerten.

Mexiko ließ sich von diesen Erfahrungen nicht abhalten: So gut wie alle Richter dort sollen jetzt per Volksabstimmung neu besetzt werden, in zwei Etappen: zuerst an diesem Sonntag und dann 2027. Wann welche Posten an der Reihe sind, hat eine Zufallslotterie entschieden. Die Kandidatenfülle ist riesig, die Überforderung auch: Je nach Bundesstaat gibt es teilweise mehr als ein halbes Dutzend bunte Wahlzettel, auf denen die Bürger über die unterschiedlichsten Ämter und Aufgaben abstimmen müssen. Klassischer Wahlkampf ist nicht erlaubt, es gibt keine Anzeigen in Zeitungen, keine Werbung in Fernsehen und Radio. Die Kandidaten setzen auf Handzettel und Social-Media-Kampagnen.

Politiker und Nachrichtenseiten bieten Anleitungen für die Stimmabgabe an: Niemand soll ja aus Versehen einen Kandidaten wählen, den er oder sie nicht will. Teilweise ist die Auswahl ohnehin begrenzt: Manchmal gibt es für Posten nur zwei Bewerber, in einigen Fällen sogar keinen Gegenkandidaten. All das wird dazu führen, dass die Wahlbeteiligung extrem niedrig ausfällt, glauben Umfrageinstitute, teilweise ist von nur von 15 oder gar acht Prozent die Rede.

Es stellt sich die Frage: Wozu all der Aufwand?

„Mexiko wird am 1. Juni ein demokratischeres Land werden“, sagt Staatspräsidentin Claudia Sheinbaum. Kritiker bezweifeln das.
„Mexiko wird am 1. Juni ein demokratischeres Land werden“, sagt Staatspräsidentin Claudia Sheinbaum. Kritiker bezweifeln das. (Foto: RODRIGO OROPEZA/AFP)

Allgemein gelten Richter in Mexiko als bestechlich, das ganze System steht im Verdacht der Vetternwirtschaft. Lediglich ein Drittel der Menschen in Mexiko vertraue noch der Justiz, so hat das Umfrageinstitut Latinobarometer ermittelt. Nur rund ein Zehntel der Straftaten wird darum überhaupt angezeigt, und nur in einem Bruchteil der Fälle kommt es zu einer Verurteilung.

Viele Mexikanerinnen und Mexikaner sind also unzufrieden mit der Justiz, zugleich war die Radikalreform auch politisch motiviert. Die Idee, das Rechtssystem zu erneuern, geht zurück auf Andrés Manuel López Obrador, einen Politiker, nach seinen Initialen allgemein nur Amlo genannt. Der Linkspopulist regierte Mexiko von 2018 bis 2024, und immer wieder kam es zu Reibereien, sogar offenem Streit mit der Justiz. Richter und Gerichte stoppten oder bremsten Teile von Amlos Plänen und Projekten, unter anderem die Unterstellung der Nationalgarde unter die Kontrolle des Militärs oder den Ausbau von Zuglinien. Amlo behauptete daraufhin, die Richter stünden im Dienste einer „Wirtschaftsmafia“, seine Anhänger verbrannten auf Demonstrationen Bilder der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs.

Kurz vor Ende seiner Amtszeit drückte er 2024 noch eine Justizreform durch das Parlament. Seitdem hat sich seine politische Ziehtochter und Nachfolgerin Claudia Sheinbaum um die Ausarbeitung gekümmert. Mexikos Präsidentin argumentiert, dass die Wahlen die Richter empfänglicher machen würden für die Probleme der Bürger. Gleichzeitig wären sie gezwungen, Rechenschaft abzulegen über ihre Arbeit und ihr Amt. „Mexiko wird am 1. Juni ein demokratischeres Land werden“, so Sheinbaum.

Kritiker allerdings befürchten das Gegenteil: Gerichte würden durch die Abstimmung anfälliger für Einflussnahme, nicht nur vonseiten der Politik, sondern auch vom Organisierten Verbrechen. Tatsächlich haben Beobachter ein gutes Dutzend Kandidaten ausgemacht, die bei den Wahlen zugelassen sind, obwohl sie in der Vergangenheit nachweislich für Drogenbosse gearbeitet haben oder mit kriminellen Gruppen in Verbindung stehen.

Theoretisch dürfen alle amtierenden Richter bei der Wahl am Sonntag als Kandidaten antreten. In der Praxis aber verweigerten viele die Teilnahme aus Protest gegen die Abstimmung. Schon 2024 kam es vor und nach der Verabschiedung der Justizreform zu heftigem Widerstand. Justizangestellte streikten, einmal stürmten aufgebrachte Demonstranten sogar den Senat. Mit Klagen wurde versucht, die Maßnahme noch zu stoppen, vergeblich.

Selbst aus dem Ausland gab es Kritik: Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Joe Biden kritisierte das Reformvorhaben scharf. Und der damalige Senator und heutige US-Außenminister Marco Rubio unterzeichnete sogar einen Brief, in dem es hieß, Mexiko untergrabe die Unabhängigkeit und Transparenz seiner Justiz, und das gefährde „wichtige wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen unserer beiden Nationen“.

Die mexikanische Regierung hat das nicht aufgehalten, und so lässt sie nun über die Richterposten die Bürger abstimmen: Sie haben die Qual der Wahl.

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