Messerangriff in Hamburg-Barmbek:Ahmad A., einer unter fünfhundert

Nach Messerattake in Hamburg: Razzia in Flüchtlingsunterkunft

Polizeibesuch in dem Hamburger Containerdorf, in dem der Attentäter Ahmad A. wohnte.

(Foto: Bodo Marks/dpa)

Der Messerangreifer von Hamburg lebte in der Flüchtlingsunterkunft Kiwittsmoor. Wie geht es dort zu? Ein Besuch.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Plötzlich ist da dieses Stimmchen. "Was suchst du?" Ein kleines Mädchen in Hosen steht beim Sandkasten mit der Schaukel in der Flüchtlingsunterkunft Kiwittsmoor und schaut aus ernsten, fragenden Augen. Es wird sich nicht mit einer ausweichenden Antwort abspeisen lassen. Also muss man eine geben, die ehrlich ist und das Kind trotzdem nicht verwirrt. Hier, im Containerdorf in Hamburg-Langenhorn, wohnte der Palästinenser Ahmad A., der am vorvergangenen Freitag in einem Barmbeker Supermarkt einen Menschen erstach und fünf verletzte. Der Verfassungsschutz führte ihn als psychisch labilen Islamismus-Verdachtsfall. Die Tat hat die Frage aufgeworfen, ob es etwas mit seinen Lebensumständen zu tun haben könnte, dass A. zum Mörder wurde.

"Was suchst du?", fragt also das Mädchen und lauscht einer umständlichen Antwort, die sagen soll, dass es bei dieser Suche um Eindrücke vom Leben in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft geht.

Die Atmosphäre ist belastet - dazu trug auch Ahmad A. bei, als er noch da war

Vor zwei Jahren, als die große Welle der Geflüchteten Deutschland erreichte, ist es ein großes Thema gewesen, wie der Staat die Menschen unterbringt, die sich vor Krieg und Unterdrückung hierher retten. Im Ringen um Raum für neue Unterkünfte mussten viele Städte improvisieren. Neuankömmlinge wohnten wochenlang in sehr engen Verhältnissen, es gab Berichte von schwierigen hygienischen Bedingungen, Seuchenbekämpfung, Schlägereien. Aber längst sind die wichtigsten Flüchtlingsrouten dicht, die Asylgesetze sind verschärft. Der Druck ist weg. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres musste Hamburg 1832 Geflüchtete unterbringen, im gleichen Zeitraum 2016 waren es 6094. Die Geflüchteten scheinen sich mittlerweile nahtlos einzufügen in den Alltag. Ahmad A.s Bluttat hat Zweifel geweckt, die für viele längst eingeschlafen waren.

Das kleine Mädchen gehört zu einer kurdischen Familie aus Syrien. Die Mutter kommt hinzu, andere Kinder werden auch aufmerksam, und bald sitzt man zusammen am Sandkasten. Die Frau mit Kopftuch erzählt auf Arabisch, die Kinder übersetzen. Seit mehr als einem Jahr lebt ihre siebenköpfigen Familie in engen, voneinander getrennten Containerzimmern. Die Toilette müssen sie sich mit anderen teilen. Die Frau hält sich die Nase zu, um zu zeigen, dass das der Hygiene nicht immer zuträglich ist. Manche im Camp hören nachts so lange laut Musik, dass sie und die Kinder nicht schlafen können. Weil in der Unterkunft viele unterschiedliche Mentalitäten aus teilweise verfeindeten Volksgruppen zusammenleben, herrscht eine belastete Atmosphäre. Auch Ahmad A. hat dazu beigetragen, als er noch hier war.

Ein Junge erzählt, dass A. seinen Cousin mal grundlos in einen Mülleimer gesteckt habe. Und die Frau sagt, er habe Alkohol und Drogen genommen. Seine Tat hat sie erschreckt. "Ein Muslim macht so was nicht", übersetzt eines der Kinder. Könnten die Bedingungen im Camp ihn verrückt gemacht haben? "Vielleicht werde ich hier verrückt", sagt sie und lacht.

28 Personen teilen sich vier Toiletten und vier Duschen

Das Flüchtlingscamp Kiwittsmoor ist nach Angaben des Zentralen Koordinierungsstabs Flüchtlinge in Hamburg eine von 121 öffentlich-rechtlichen Unterkünften mit insgesamt 28 700 Plätzen, auf welche die Stadt die Geflüchteten nach der Erstaufnahme verteilt. Es wurde Anfang Oktober 2015 eröffnet. Es gehört zu den Einrichtungen aus der Phase des Improvisierens. Der Park&Ride-Parkplatz neben dem U-Bahnhof Kiwittsmoor mitten in der grünen Reihen- und Einfamilienhausidylle des Hamburger Nordens bot sich damals als Standort an. Eilig kaufte das städtische Betriebsunternehmen "fördern und wohnen" (f&w) Container und ließ daraus nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz zur Vermeidung von Obdachlosigkeit fünf kleine und drei große Wohnblöcke für insgesamt 590 Personen errichten; derzeit leben rund 500 Personen in der Unterkunft. Im größten Block teilen sich 28 Personen vier Toiletten, vier Duschkabinen und sechs Handwaschbecken. Nicht ideal, das weiß f&w selbst. "Das entspricht nicht dem, was wir als guten Unterbringungsstandard sehen", sagt Sprecherin Susanne Schwendtke.

Längst sind die prekärsten Unterkünfte geschlossen und neue entstanden, die zwar auch einfach sind, aber die Geflüchteten auf Wohnungen mit eigenen Toiletten und eigener Küche verteilen. Und die Stadt baut weiter an Wohnungen für Geflüchtete und an Integrationskonzepten. "Wir wollen Standorte wie Kiwittsmoor schließen, wenn wir den Menschen etwas Besseres zur Verfügung stellen können", sagt Susanne Schwendtke, "aber das Bauen dauert eben lange, weil wir auch viele Anwohnerklagen haben."

Die Helfer glauben nicht, dass Ahmad A. wegen der Wohnbedingungen abgedreht sei

Für Ende 2018 ist die Schließung der Unterkunft Kiwittsmoor vorgesehen. Bis dahin muss sie funktionieren. Acht Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter kümmern sich um das Quartiersmanagement. Dreimal in der Woche macht ein Reinigungsunternehmen die Gemeinschaftsflächen sauber, vier Hausmeister betreuen die Gebäude. Und ein ganzes Aufgebot an Ehrenamtlichen bringt sich ein, um den Bewohnern eine Perspektive über das Containerdorf hinaus zu geben.

"Wir machen Angebote ohne Ende", sagt Martina Gregersen, 51, früher Bürgerschaftsabgeordnete für die Grünen, heute ein energiegeladener Aktivposten der Initiative "Willkommen Kiwittsmoor". Die Initiative gründete sich kurz nachdem der Parkplatz beim Bahnhof zur Flüchtlingsunterkunft bestimmt worden war. Rund 80 Nachbarn bieten Deutsch- und Nähkurse an, Hausaufgabenhilfe, Fußballspiele, Kindersingen, eine Fahrradwerkstatt, Ausflüge, sie helfen bei Behördengängen und der Wohnungssuche. Einige sind abgesprungen im Lauf der Zeit, einige kommen nicht mehr in die Unterkunft, weil der Bedarf der Bewohner nach Hilfe und Ansprache für sie zur Belastung wurde. Andere sind neu dazugestoßen. "Und ich denke, wir machen einen ganz guten Job", sagt Ronald Bücker, 59, Unternehmensberater in Frührente, Helfer der ersten Stunde.

Dass der Messerstecher von Barmbek aus ihrer Unterkunft kommt, hat die Helfer geschockt. Martina Gregersen kennt kein Bild von ihm, sie kann nicht sagen, ob sie ihm schon begegnet ist. Bücker bietet Kurse über deutsche Werte und Gewohnheiten an, rund 140 junge Männer aus dem Camp hat er so schon erreicht. Ahmad A. war nicht dabei. Erst als Bücker nach der Tat mit Bewohnern sprach, erfuhr er von dessen Ruf. "Er muss als Person sehr brüsk, eher zurückweisend gewesen sein."

Die These, dass Ahmad A. wegen Kiwittsmoor abgedreht sei, teilen die Helfer nicht - auch wenn sie die Probleme hier kennen. "Es wäre schön, wenn es kleiner wäre", sagt Martina Gregersen, "so eng zusammenzuleben in so großen Einheiten, das ist echt Stress." Außerdem müssten die Geflüchteten zu viel warten, "teilweise sogar mehrere Monate auf Anschluss-Deutschkurse". Und Bücker sagt: "Die Wohnungssuche ist ganz, ganz schwer. Dass da Verzweiflung aufkommt, ist klar."

Die Ehrenamtlichen glauben an die Leute hier

Die Flüchtlingsunterkunft Kiwittsmoor ist kein Ort, an dem man gern lange bleibt. Und zum Alltag der Bewohner gehört wohl auch, dass nicht alle Nachbarn das Camp auf dem einst gut genutzten Parkplatz gut finden. Die Autos stehen jetzt in den Nebenstraßen, leise ist es in der Unterkunft auch nicht gerade. Dass die Polizei in Langenhorn zuletzt häufiger Fälle von Vandalismus vermerkte, könnte mancher den Bewohnern anlasten. Bücker sagt dazu: "Nach jetzigem Diskussionsstand ist die Randale vorrangig heimischen Jugendlichen unter Alkoholeinfluss zuzurechnen."

Die Ehrenamtlichen kennen die Geschichten vieler Familien in der Unterkunft. Sie kennen die Kinder, die in der Enge zwischen den Containern spielen und von dort aus in die Schule oder Vorschule gehen. Sie glauben an die Leute hier. Sie verteidigen sie. Die Anzeige, durch welche die Polizei im vergangenen Jahr darauf aufmerksam wurde, dass Ahmad A. seine Persönlichkeit Richtung Islamismus veränderte, kam aus der Unterkunft. Und Ronald Bücker quält es, dass die Bewohner seit der Tat Angst vor Vorurteilen haben, weil sie aus Kiwittsmoor kommen, wo angeblich die Gewalt wohne. Er sagt: "Ich hoffe, dass es genügend Besonnenheit gibt." Damit eine schlimme Tat nicht den guten Willen von 500 anderen infrage stellt.

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