Er hat sich nicht versteckt, hat wohl auch nicht gebrüllt, wirkte dem ersten Eindruck nach kooperativ und klar im Kopf. Offenbar wollte der Tatverdächtige festgenommen werden, womöglich damit auch im ganzen Land bekannt werden, als Attentäter. Mit blutverschmierten Händen und Kleidern lief ein 19 Jahre alter Syrer nach Angaben der Berliner Generalstaatsanwaltschaft am Freitagabend auf Polizeibeamte am Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu.
In dem Stelenfeld mitten in Berlin war drei Stunden zuvor ein Tourist aus Spanien mit einem Jagdmesser lebensgefährlich verletzt worden. Er sei der Täter, soll der junge Mann der Polizei zu Protokoll gegeben haben, ganz ruhig. Er habe Juden töten wollen.
Einen Tag vor der Bundestagswahl wird damit die Reihe blutiger Messerattacken länger, die in Deutschland für Entsetzen und erhebliche politische Verwerfungen sorgen. Ein Nachahmungseffekt sei nicht auszuschließen, hieß es am Samstag in Ermittlerkreisen. Eine derartige Häufung öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Zivilpersonen wie in den vergangenen Monaten gilt auch in Sicherheitskreisen als auffällig.
Opfer der jüngsten Attacke am Berliner Holocaust-Mahnmal war nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Berlin ein 30 Jahre alter Spanier, der das Stelenfeld besichtigen wollte. Der Tatverdächtige soll den Mann von hinten angegriffen und ihm ein 20 Zentimeter langes Jagdmesser über die Kehle gezogen haben. Der Spanier kam schwer verletzt ins Krankenhaus, überlebte nach einer Notoperation und künstlichem Koma. Sein Zustand sei stabil, er sei nicht mehr in Lebensgefahr, hieß es am Samstag. Sechs weitere Menschen, die Augenzeugen der Attacke wurden, mussten noch vor Ort ärztlich betreut werden.
Tatverdächtiger war polizeibekannt, aber nicht ausreisepflichtig
Die Berliner Staatsanwaltschaft geht von einem antisemitischen Tatmotiv aus – und von einer gezielten Anreise des Tatverdächtigen zu dem symbolträchtigen Stelenfeld aus Beton, mit dem in Berlin an Millionen ermordete Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert wird. Der Tatverdächtige kam 2023 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Syrien nach Deutschland und lebte mit regulärem Flüchtlingsstatus in Leipzig. Nach eigener Aussage habe er sich bewusst entschieden, nach Berlin zu fahren, weil ihm das Holocaust-Mahnmal als geeigneter Ort für eine solche Tat erschienen sei, sagte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner. „Es war sein Ziel, Juden zu töten.“ Erkennbar sei nach ersten Vernehmungen auch ein Zusammenhang zum Nahostkonflikt geworden.
Hinweise auf eine Mitgliedschaft in einer islamistischen Gruppierung hingegen konnten Ermittler zunächst nicht feststellen. Im Gepäck des Syrers sollen sich neben der Tatwaffe zwar ein Koran, ein Zettel mit Koran-Suren und ein Gebetsteppich befunden haben. Dennoch sehe es bislang eher nach einem Einzeltäter aus, der in den letzten Wochen allein zu seinem Entschluss gekommen sei. „Wir haben keine Anhaltspunkte, dass er in irgendwelche Strukturen eingebunden wurde“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Sollte sich bestätigen, was Ermittler bisher zutage gefördert haben, dann hat sich da ein junger Geflüchteter in aller Stille und binnen weniger Wochen radikalisiert.
Der Polizei in Sachsen ist der Tatverdächtige nach eigenen Angaben zwar bekannt wegen verschiedener einfacher Straftaten „der allgemeinen Kriminalität“, nicht aber wegen politisch motivierter Straftaten. Einen „Staatsschutzbezug“ habe es bisher nicht gegeben, der Verdächtige sei auch kein Mehrfach- oder Intensivstraftäter. Auch ausreisepflichtig war der Syrer nicht, er wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge demnach nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Ob eine psychische Erkrankung vorliegt, ist noch zu klären. Bei einer Durchsuchung einer Flüchtlingsunterkunft in Leipzig sollen Datenträger gesichert worden sein. Nach der Festnahme wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung und des versuchten Mordes ist ein Haftbefehl ergangen. Seit Samstagabend ist der Mann in Untersuchungshaft.
Faeser will mutmaßlichen Täter „direkt aus der Haft“ abschieben
In Berlin löste der Fall heftige Reaktionen aus, aber auch Gesten der Hilflosigkeit. Die Messerattacke am Holocaust-Mahnmal sei „ein abscheuliches und brutales Verbrechen“, erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Der mutmaßliche Täter müsse „mit aller Härte bestraft“ und „direkt aus der Haft abgeschoben“ werden. Man werde alle Wege nutzen, „um Gewalttäter wieder nach Syrien abzuschieben“.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sprach von einem feigen Angriff. Er erwarte von der nächsten Bundesregierung, „dass solche Täter ihren Schutzstatus verlieren und schnell unser Land verlassen müssen“. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) nannte den Angriff „unerträglich“, gerade am Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mahnte, dass der Angriff eine häufig nicht verstandene ideologische Gedankenwelt des Täters offenbare. „Die Verachtung der Erinnerung an die Schoa und der Hass auf Juden gehen Hand in Hand mit der fundamentalen Ablehnung unserer westlichen Werte und sind oft der ideologische Kern islamistisch motivierter Täter“, teilte Schuster mit.