Mit doppelten Anläufen hat Friedrich Merz ja inzwischen so seine Erfahrungen. Insofern dürfte der neue, wenn auch erst im zweiten Wahlgang bestätigte deutsche Bundeskanzler es seinem Gesprächspartner am Freitagmorgen verziehen haben, dass der sich kurz verhaspelte. Er freue sich, „Chancellor Sch...“ begrüßen zu dürfen, setzte EU-Ratspräsident António Costa bei der gemeinsamen Pressekonferenz in Brüssel an, um sich dann eilig zu korrigieren: „Chancellor Merz.“ Der portugiesische Sozialdemokrat und Ex-Premier Costa und der deutsche Sozialdemokrat und Ex-Kanzler Olaf Scholz sind enge Freunde. Da kann so etwas schon mal passieren.
Abgesehen von dem kleinen Versprecher lief dann auch alles weitgehend glatt bei der Antrittsreise von Merz zur EU. Der Bundeskanzler war selbst einmal Europaparlamentarier, er kennt Brüssel, sein Besuch fiel zudem auf den 9. Mai, den Europa-Tag. Es gab mithin genügend Gelegenheiten für Merz und seine Gesprächspartner und -partnerinnen – neben Costa traf er Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola –, darauf hinzuweisen, dass Europa dem neuen Kanzler wichtig ist. Jedenfalls wichtiger als seinem Vorgänger Scholz, der zur EU doch stets ein eher nüchternes Verhältnis hatte.

Bei der Migration werde es „keine Alleingänge“ geben, betont Merz
Allerdings bekam Merz bei seinem Besuch auch zu spüren, dass das Startguthaben an Vorfreude auf einen anderen Bundeskanzler als Scholz in der EU ziemlich schnell aufgebraucht sein kann. Auch Merz wird von seinen europäischen Kolleginnen und Kollegen daran gemessen werden, was er als Kanzler tut und entscheidet. Und in dieser Hinsicht ließ der Brüssel-Besuch schon einmal erahnen, wo es mögliche Konflikte zwischen der neuen Bundesregierung und anderen europäischen Ländern geben könnte.
Thema eins: Migration. Merz gab sich in Brüssel zwar alle Mühe zu betonen, dass Berlin „keine Alleingänge“ unternehmen werde, um die irreguläre Einwanderung einzudämmen. Alle Maßnahmen seien mit dem EU-Recht vereinbar und mit den Nachbarländern abgestimmt, versicherte er.
Die Einschätzung teilen allerdings längst nicht alle Nachbarregierungen. Auch in der Brüsseler Kommission trifft zum Beispiel Merz’ Behauptung auf Skepsis, es sei rechtskonform, Migranten an einer deutschen Außengrenze zu einem anderen EU-Land ab- und zurückzuweisen, auch wenn sie dort um Asyl bitten. Merz muss jedoch kaum befürchten, dass ihm seine Parteifreundin Ursula von der Leyen deswegen in die Quere kommt: Die EU-Kommission lässt den Mitgliedsländern schon seit Längerem weitgehend freie Hand, wenn sie härter gegen Migranten vorgehen. Auch in Brüssel weiß man, wie viel politische Energie rechtspopulistische Parteien aus dem Thema ziehen und wie hoch der innerpolitische Druck auf viele Regierungen ist.
Scholz hatte gemeinsame EU-Schulden für die Rüstung immer abgelehnt
Thema zwei: Verteidigung. Merz kam zwar nach Brüssel, um vor allem über Wirtschaftsdinge zu reden, zuvorderst über die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und den Abbau lähmender Bürokratie. Doch die Frage, zu der die meisten EU-Regierungen tatsächlich etwas von ihm hören wollten – ebenso wie Nato-Generalsekretär Mark Rutte, den der Kanzler später traf –, war eine andere: Wie soll die EU die massive Aufrüstung finanzieren, die angesichts der Bedrohung durch Russland und der gleichzeitigen Abwendung der USA nötig ist, um Europas Sicherheit zu garantieren?
Eine bei ärmeren Staaten populäre Idee, um an Geld zu kommen, ist die Aufnahme gemeinsamer EU-Schulden, sogenannter Eurobonds. Das wurde während der Corona-Pandemie gemacht, um wirtschaftliche Wiederaufbauprojekte in den Mitgliedsländern bezahlen zu können. Da Deutschland derartige EU-Schulden aber maßgeblich bezahlen muss, hatte Olaf Scholz dieses Instrument zur Finanzierung von Verteidigungsausgaben als Kanzler stets strikt abgelehnt. Entsprechend groß ist bei etlichen europäischen Regierungen die Hoffnung, Merz könnte die Weigerung aufgeben.
Doch der Kanzler gab sich in Brüssel nicht besonders entgegenkommend. Er habe nicht vor, die Haltung der Bundesregierung zu ändern, was die Möglichkeiten der EU zur Schuldenaufnahme angehe, sagte er nach dem Treffen mit Costa. Nach dem Gespräch mit von der Leyen klang er etwas milder: Es müsse darum gehen, dass die Aufnahme neuer Schulden die Ausnahme bleibe und nicht die Regel werde, erläuterte er.
Unterm Strich blieb, dass Merz die Tür für Eurobonds vielleicht nicht ganz zugesperrt, aber bestimmt auch nicht weit geöffnet hat. Bevor er der Aufnahme neuer EU-Schulden zustimmt, will er zunächst den Druck auf die anderen Länder erhöhen, ihre Ausgaben zu priorisieren, zu sparen oder einzelstaatliche Möglichkeiten für Kredite zu prüfen – so wie es Deutschland mit der Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben getan hat. Dabei hat er vor allem Frankreich, Italien und Spanien im Blick. Es sei ihm aber klar, so Merz, dass ihm bei diesem Thema noch schwierige Debatten bevorstünden.