Der Überdruss an den Alten war noch jedes Mal groß, und die Dankbarkeit hielt sich in Grenzen. Das galt in der Union nach zwei Jahrzehnten unter Adenauer, nach einem Vierteljahrhundert unter Kohl, und das zeigt sich nun nach 18 Jahren Merkel. Wenn es um die Macht geht (und wann täte es das nicht?), ging und geht es auch bei den Christdemokraten - als interkonfessionelle Sammlungsbewegung die einzige wirkliche Neugründung unter den 1945 von den Besatzungsmächten zugelassenen Parteien - seit jeher nicht sonderlich fromm zu. Angela Merkel wird deshalb kaum erstaunt gewesen sein, als eigentlich niemand ein Wort des Bedauerns über ihren Rückzug vom Parteivorsitz fand. Dem, der es fand, Horst Seehofer ("schade"), nahm es keiner ab.
Vom Ende her betrachtet, wird man sagen können, dass das unionstreue westdeutsche Bürgertum in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts erstaunlich rasch und reibungslos zurechtkam mit der ersten, überdies ostdeutschen Frau an der Spitze seiner bis dahin doch immer noch sehr patriarchalisch geprägten Partei. Das galt zumal nach der Abwahl von Rot-Grün 2005 und der ersten großen Koalition unter ihrer Führung. Dass Angela Merkel die Agenda 2010 ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder zwar lobte, sich im Übrigen aber - wie 20 Jahre vor ihr Helmut Kohl - sozial- und wirtschaftspolitisch eher vorsichtig bewegte, betrachteten forsche Neoliberale wie ihr damals bereits ausgebooteter Kontrahent Friedrich Merz mit Missmut und Ungeduld. In der Finanzkrise 2008/09 war dann freilich auch der Wirtschaftsflügel der Union erleichtert darüber, dass noch nicht sämtliche Instrumente spurlos entsorgt waren, die den sozialpartnerschaftlichen Rheinischen Kapitalismus einst ausgemacht hatten.
Merkels West-Gelehrigkeit, ihr schnelles Eintauchen in die Tiefen und Untiefen des bundesrepublikanischen Politikbetriebs, trug jenseits aller Sachkritik wohl entscheidend dazu bei, dass sie bei vormaligen DDR-Bürgern schon bald auf verquere, schließlich verstörende Weise unbeliebt wurde; die widerwärtige Galgeninszenierung von 2015 und die bösen Bilder vom Tag der Deutschen Einheit 2016, beides in Dresden, sind noch in Erinnerung. Allerdings bezog und bezieht sich diese Totalverdammung in erster Linie auf Merkels Rolle als Kanzlerin, nicht auf ihre Position als Vorsitzende einer Partei, die in der ostdeutschen Fläche organisatorisch ohnehin kaum vorkommt.
Letzteres verweist auf ein Problem, das die Union mit allen "Westparteien" im Osten Deutschlands teilt. Zwar hatte sie nach dem Mauerfall nicht gezögert, die ostdeutsche "Blockflöten"-CDU für ihre Wahlkampfzwecke zu vereinnahmen. Aber weder Helmut Kohl noch Angela Merkel und ihre jeweiligen Generalsekretäre vermochten es, die CDU in den einstmals neuen Bundesländern in einer Weise von unten aufzubauen, die auch nur entfernt mit ihren organisatorischen Bastionen im alten Westen mithalten könnte.
Wo der Union im Anschluss an ihren Erfolg bei der Einheitswahl vom Dezember 1990 in Ostdeutschland eine nachhaltige Stabilisierung gelang - also vor allem in Sachsen und Thüringen -, war dies aus dem Westen verschifften Fahrensmännern der Kohl-CDU zu verdanken: Kurt Biedenkopf, dem einstmals brillanten Parteistrategen, der sich bald als "König Kurt" gerierte und in Dresden die jungen Rechten machen ließ, und in Thüringen Bernhard Vogel, den die rheinland-pfälzische CDU drei Jahre zuvor aus seinem Ministerpräsidentenamt gemobbt hatte. Mit einer Modernisierung der Union hatte beider Wechsel in den Osten nichts zu tun.
Aber nicht nur die Neu-Unionisten im wilden Osten bewegten sich zu Anfang der Neunziger schwerlich auf der Höhe des gesellschaftlichen Fortschritts. Angela Merkel war und blieb einstweilen, jedenfalls in dessen Wahrnehmung, "Kohls Mädchen". Die Zeiten, in denen Rita Süssmuth dem Kanzler im Kabinett mit Ansichten über die notwendige Frauenemanzipation auf den Nerv gehen durfte, waren längst vorbei, ebenso die Ära Heiner Geißlers als eines Debatten prägenden CDU-Generalsekretärs. Nicht einmal die "Jungen Wilden" vom "Andenpakt" wagten sich aus den Büschen. Hätten sie sich getraut, wäre deutlich geworden, wie fern vom Zeitgeist der bald schon rot-grünen Jahre diese seit 1979 verschworene (und deshalb mittlerweile auch nicht mehr ganz so junge) Nachwuchsriege war: rein männlich, konservativ, katholisch, westdeutsch - und im Zweifel provinziell.
Das war die Situation, in der Angela Merkel im November 1998 als CDU-Generalsekretärin übernahm. Ein Jahr später beendete sie mit kühler Kalkulation nicht nur Kohls spektakulär aufgeflogenes "Bimbes"-Regiment, sondern beerbte auch gleich noch den unglückseligen Parteivorsitzenden Wolfgang Schäuble. Dass sie zu Jahresanfang 2002 dem Vorsitzenden der bayerischen Schwesterpartei die Kanzlerkandidatur überlassen musste wie Helmut Kohl 1980 Franz Josef Strauß, und dass dann Edmund Stoiber gegen Schröder verlor wie einst Strauß gegen Helmut Schmidt: Merkel wird es still genossen haben.
Denn damit stand ihr fortan nicht nur niemand mehr im Weg - es zeichnete sich auch bereits ab, dass es am Ende vielleicht gerade nicht an der SPD sein würde, sich den überfälligen Akt der Gleichberechtigung im Kanzleramt auf ihre Fahnen zu schreiben, sondern an der unterdessen gesellschaftspolitisch bemerkenswert modern gewordenen CDU. Deren Öffnung hin zur ökologisch interessierten, städtisch-liberalen Mitte einer sich rasant individualisierenden Gesellschaft ging unter Merkels Kanzlerschaft weiter. Wer, wie die Traditionskompanien der "Werteunion", hinter diese Weltzugewandtheit zurück- oder hin zu einem neuen Marktradikalismus will, der betreibt die Demontage auch der letzten einstweilen noch verbliebenen Volkspartei.