Europa:Die gewaltige Abneigung gegen Merkels Europa

Europa: Projekt Wiederbelebung der EU: Angela Merkel neben Matteo Renzi und François Hollande auf dem Flugzeugträger Garibaldi

Projekt Wiederbelebung der EU: Angela Merkel neben Matteo Renzi und François Hollande auf dem Flugzeugträger Garibaldi

(Foto: AFP)

Die Kanzlerin zieht immer unverhohlener die Führung in der EU an sich. Aber kann sie der Gemeinschaft noch helfen? An dieser Frage entscheidet sich ihr Schicksal als Bundeskanzlerin.

Kommentar von Nico Fried

Wenn es noch eines Beweises bedarf, wie ernst es um die Europäische Union steht, dann ergibt er sich aus Angela Merkels Terminplan in dieser Woche. Die Kanzlerin besucht nicht nur vier EU-Mitgliedstaaten, sie trifft Staats- und Regierungschefs aus insgesamt 15 der anderen 27 EU-Länder. Das sind eine Menge Gespräche zur Vorbereitung eines informellen Gipfels, der im September stattfindet. Die ausgeprägte Reisediplomatie erinnert an die Intensität des Jahres 2007, als Deutschland die EU-Präsidentschaft hielt und eine noch recht neue Bundeskanzlerin von einem gescheiterten Verfassungsentwurf retten musste, was zu retten war.

Doch diesmal hat die kleine Slowakei den Vorsitz und muss genau genommen von der ganzen EU retten, was zu retten ist. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico ist freilich politisch nur ein Opportunitätseuropäer und entschiedener Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik. Er regiert in einer wackeligen Koalition, der eine nationalistische Partei angehört. Merkel betreibt deshalb unübersehbar Nebendiplomatie. Das passt auch ins Bild einer Kanzlerin, die immer unverhohlener die Führung in der Gemeinschaft an sich zieht - die Slowakei hat den Vorsitz bekommen, Merkel hat ihren genommen.

Die Kanzlerin regiert seit elf Jahren

Es gibt neben der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands in einer EU, aus der sich nun auch noch die Briten verabschieden, zwei weitere Faktoren, die eine Führungsrolle für Merkel fast unausweichlich machen: ihr Status als dienstälteste Regierungschefin. Und ihre Mitverantwortung für die Probleme, in denen Europa steckt. Was aussteht, ist der Nachweis, dass sie der EU in dieser Lage noch helfen kann.

Die Kanzlerin regiert seit elf Jahren, länger als jeder ihrer europäischen Kollegen. Mithalten kann nur der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der auf insgesamt zehn Jahre kommt, zwischendurch aber lange Zeit abgewählt war. Es folgen mit großem Abstand der Holländer Mark Rutte mit sechs, und der Ire Enda Kenny mit fünfeinhalb Jahren. Von den am kürzesten amtierenden Regierungschefs muss man elf zusammenzählen, um auf Merkels Dienstzeit zu kommen.

Was kann Merkel noch bewegen?

Hinter diesen Zahlen stecken Erfahrungen, die den Blick auf Europa prägen. Merkel war die einzige, die schon zu Beginn der Finanz-, Wirtschafts- und Euro-Krise regierte, als die EU - nicht zuletzt von Merkel initiiert - die Wende von der Verteilungs- in die Sanierungsgemeinschaft organisierte. Viele ihrer Kollegen kamen hingegen erst an die Macht, nachdem die Vorgänger an diesen Krisen gescheitert waren. Gerade weil sie einem härter gewordenen Europa ihr Amt verdanken, erweisen sie sich nicht unbedingt als dessen stärkste Befürworter. Und vor allem in Osteuropa bilden Skepsis, Zweifel, ja Widerstand gegen die EU mittlerweile einen ebenso beachtlichen wie beängstigenden Teil der Machtbasis mancher Regierung.

Weil kein anderer Regierungschef so lange und einflussreich an diesem Europa mitgewirkt hat, ist die Abneigung zwangsläufig auch eine Abneigung gegen Merkels Europa. Da hilft der Hinweis auf die Gemeinsamkeit der meisten Beschlüsse nichts. Der Grat zwischen dem Wunsch nach deutscher Führung und der Klage über deutsche Dominanz ist stets schmal.

Wie viel kann die Kanzlerin in Europa noch bewegen?

Die Flüchtlingskrise hat diese Spannung deutlich manifestiert. Da war einerseits das verständliche Entsetzen über die Hartherzigkeit und den Rassismus in manchen EU-Staaten. Andererseits: dass die Kanzlerin bei den Partnern mehr Bereitschaft zur Solidarität erwartete, war eine Fehleinschätzung; dass sie unter dem Druck der Verhältnisse in Deutschland versuchte, diese Solidarität in Europa zu erzwingen, war ein Fehler. Der diplomatische Aufwand, den die Kanzlerin dieser Tage betreibt, wirkt wie das Kontrastprogramm zur Überwältigungspolitik von 2015 - gelebte Reue, wenn man so will.

Die Aufgabe bleibt gewaltig: Merkel muss die Europäer dazu bringen, dass sie aus eigener Überzeugung eine Flüchtlingspolitik betreiben, die bestenfalls von Solidarität zu Hause bis zu einem Milliardenprogramm für Afrika reicht. Sie muss helfen, Europa zusammenzuhalten gegenüber Russland und der Türkei. Sie muss dabei mitwirken, den Bürgern nach der Entscheidung zum Brexit den Wert der EU neu zu vermitteln.

Die Frage, ob Merkel Erfolge erzielt, ob also ihre Erfahrung noch dienlich ist, oder die lange Amtszeit zur Last wird, ist nicht nur von Bedeutung für Europa. Wie viel die Kanzlerin in der EU noch bewegen kann, ist auch eine Frage, die bei der alsbald anstehenden Entscheidung eine Rolle spielen muss, ob sie noch einmal Kanzlerin werden sollte - für die Bürger am Ende sowieso, aber auch vorher für die CDU; und ganz besonders für Merkel selbst.

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