Süddeutsche Zeitung

Merkel zu Flüchtlingspolitik:"... dann ist das nicht mein Land"

Angela Merkel und Werner Faymann rechtfertigen ihre Flüchtlingspolitik - der Österreicher sarkastisch, die Kanzlerin mit einem Rundumschlag.

Von Nico Fried, Berlin

Da rücken zwei eng zusammen. Und Werner Faymann macht das gleich mit einer sehr persönlichen Anrede deutlich. "Ich bin dir sehr dankbar", sagt Faymann zu Angela Merkel, "dass du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst."

Es geht um die Nacht zum 5. September. In Ungarn hatten sich Hunderte Flüchtlinge auf den Weg gemacht, um auf der Autobahn zu Fuß an die österreichische Grenze zu gelangen. Faymann rief Merkel an, Kanzler und Kanzlerin kamen überein, den Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren. Diese Entscheidung gilt als ein Schlüsselereignis der Flüchtlingskrise - Befürworter sehen darin einen beispielhaften humanitären Akt, Kritiker hingegen einen katastrophalen Irrtum, der weitere Flüchtlinge ermutigt habe, den Weg nach Deutschland zu suchen. Am schärfsten hat CSU-Chef Horst Seehofer die Entscheidung kritisiert, als er von einem Fehler sprach, "der uns noch lange beschäftigen wird".

Merkel streift das Thema in der gemeinsamen Pressekonferenz zunächst nur. Notsituation, humanitäre Gründe, Ausnahme - ihre bekannten Argumente. "Es war selbstverständlich, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, und ich halte sie auch für richtig, sie hat vielen Menschen geholfen." Faymann aber spricht ausführlicher über jene Nacht. Er beginnt bei den Werten einer Europäischen Union, die den Friedensnobelpreis bekommen habe. Nun kämen Menschen an die Grenzen, die sich aus Kriegsgebieten auf der Suche nach Frieden "durchgekämpft haben", so der Kanzler. Die könne man nicht abweisen.

Das Bild von Mama Merkel geht um die Welt

In jener Nacht, sagt Faymann, habe man vor der Wahl gestanden: Redet man jetzt über die Versäumnisse Ungarns und Griechenlands im Umgang mit den Flüchtlingen und über den Krieg in Syrien? "Oder helfen wir diesen Menschen, die schon lange nichts mehr zum Essen hatten, die losmarschiert sind, die Angst bekommen hatten, auf ihrem Weg überhaupt keine Freiheit und Schutz mehr zu finden. Andere Politiker", sagt Faymann sarkastisch, "berufen dann Arbeitskreise ein und denken viel nach darüber, wie sie die Schuld auf andere schieben." Merkel und er aber hätten sich für die Öffnung der Grenze entschieden - es sei schon damals klar gewesen, dass man irgendwann auch wieder "einen Normalbetrieb aufnehmen" müsse.

Dann wird Merkel gefragt, wie sie zu dem Vorwurf stehe, mit dieser Entscheidung und einigen anderen politischen Signalen eine Aufnahmebereitschaft suggeriert zu haben, die viele Flüchtlinge erst animiert habe, nach Deutschland aufzubrechen. Die Kritiker der Kanzlerin haben da mittlerweile eine ganze Liste angefertigt. Sie reicht von Merkels Satz "Wir schaffen das", über die Grenzöffnung, weiter zu ihrem Satz, das deutsche Asylrecht kenne keine Begrenzung, bis hin zu Selfies, die sie mit Flüchtlingen aufnahm, und die das Bild von Mama Merkel weiter um die Welt transportiert hätten. Die Kanzlerin antwortet: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."

Merkel erinnert an die Krawalle vor dem Notaufnahmelager in Heidenau. Es sei danach auch darum gegangen, "ein bestimmtes deutsches Gesicht" zu zeigen. Damit sei sie auch nicht alleine gewesen, vielmehr seien Bilder um die Welt gegangen von Bürgerinnen und Bürgern, die in München und anderen Städten die Menschen empfangen und ihnen selbstverständlich geholfen hätten. "Das kam aus dem Herzen der Menschen", sagt Merkel. "Da hat die Welt gesagt: Das ist aber eine schöne Geste."

"Es gibt Situationen, in denen muss entschieden werden"

Wo sie nun gerade schon dabei ist, knöpft sich Merkel - ohne Namensnennung - auch einige Ministerpräsidenten aus den Ländern vor. "Weil ja manche auch gesagt haben, sie seien übertölpelt, überrannt, überrascht worden: Es gibt Situationen, in denen muss entschieden werden", sagt Merkel. "Ich konnte nicht zwölf Stunden warten und überlegen."

Und noch was fällt ihr ein. Da steht ja auch der Vorwurf im Raum, Deutschland habe den Fehler gemacht, keine Flüchtlinge mehr nach Ungarn zurückzuführen, wie es das Dublin-System eigentlich vorschreibt. Im August, sagt Merkel, seien 102 000 Leute gekommen, 70 000 von ihnen über Ungarn und Österreich. "Das hat schon viele Kapazitäten gebunden. Sollen wir jetzt die Menschen damit befassen, dass sie wieder nach Ungarn zurückgeschickt werden?", fragt Merkel. Rückführungen bänden derartig viele Ressourcen, dass die Flüchtlinge am Ende "nichts mehr zu essen gehabt hätten, weil jeder nur noch damit beschäftigt ist, Rückführungen zu versuchen".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2648819
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.09.2015/dayk
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.