Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihre Zweifel am System des Spitzenkandidaten für die Europawahl deutlich gemacht, gleichzeitig aber dem Unionskandidaten Manfred Weber ihre Loyalität versichert. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Merkel, sie habe schon vor fünf Jahren ihre "Skepsis gegen das Prinzip Spitzenkandidat geäußert". Als "gutes Mitglied" der Europäischen Volkspartei setze sie sich aber dafür ein, dass deren Kandidat Weber Kommissionspräsident wird, falls die EVP stärkste Kraft bei den Europawahlen werde. Merkel betonte, dass Weber das Vertrauen der EVP-Fraktion genieße.
Nachdem beim letzten EU-Gipfel im rumänischen Sibiu eine breite Ablehnung gegen das Spitzenkandidaten-Prinzip deutlich wurden, machte Merkel mit dieser Äußerung ihre Distanz zu dem Verfahren deutlich. Ihre Unterstützung für Weber als Kommissionspräsidenten "schließt nicht aus, dass Deutschland andere herausragende Persönlichkeiten für andere Ämter hat", so Merkel.
Die Kanzlerin thematisierte zum ersten Mal auch inhaltliche Differenzen zu Weber. Es gebe bei der Beurteilung der Erdgaspipeline Nord Stream "eigene Positionen". Weber komme "aus gesamteuropäischer Perspektive" zu einer anderen Lösung, ihre Position sei mit den deutschen Interessen und mit Europa "kompatibel". Während Weber für eine Beendigung des Pipelineprojekts plädiert, hebt Merkel auf die Änderung der Gasrichtlinie in der EU ab und spricht von einem "erstaunlich einvernehmlichen Weg".
Anders als Weber plädiert Merkel auch nicht für den sofortigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, wobei die Kanzlerin mit einem harten Urteil über Ankara nicht zurückhält. Die aktuellen Ereignisse nach den Kommunalwahlen machten "eine Mitgliedschaft der Türkei" nicht wahrscheinlicher. Merkel sprach von einer "prinzipiellen Besorgnis über den Entwicklungsweg der Türkei". Andererseits verwies sie mit Blick auf Syrien und den islamistischen Terror auf "gemeinsame Interessen".
Eine klare Absage erteilte Merkel dem italienischen Rechtspopulisten Matteo Salvini, der unlängst eine Aufnahme seiner Lega in die Europäische Volkspartei ins Spiel gebracht hatte. Schon die Migrationspolitik sei ein Grund, warum sich die EVP nicht öffnen werde. Es sei Zeit, "in der wir für unsere Prinzipien und fundamentalen Werte kämpfen müssen", mahnte Merkel mit Blick auf die Angriffe populistischer Politiker gegen die EU. Es entscheide sich im Kreis der Staats- und Regierungschefs, wie weit man den Populismus treiben wolle. "Jeder steht in der Verantwortung, pfleglich mit einem so einzigartigen Gebilde wie der Europäischen Union umzugehen." Merkel warnte davor, neue Bestrafungsmechanismen für Regelverstöße anzustreben. Die EU solle sich auf die im Lissabon-Vertrag festgelegten Sanktionen konzentrieren. Vertragsänderungen seien in dieser Frage wegen des Einstimmigkeitsprinzips der EU nicht denkbar.
Merkel lehnte es ab, über die Zukunft des Vereinigten Königreichs in der EU zu spekulieren. "Um den Austritt Großbritanniens zu vollenden, müsse es in London eine parlamentarische Mehrheit für etwas und nicht nur gegen etwas geben", sagte sie. Als wichtigste Zäsur für Europa in den vergangenen fünf Jahren nannte sie "ganz sicher die Entscheidung Großbritanniens, aus der EU auszutreten".
Mit Blick auf die italienische Staatsverschuldung betonte Merkel die wechselseitige Abhängigkeit in der Euro-Zone. "Niemand handelt autark oder isoliert. Das gilt auch für Deutschland, wenn sich bei uns das Wachstum einmal abschwächt." Die Schuldenkrise habe gezeigt, dass "wirtschaftliche Fehlentwicklungen korrigiert werden mussten und müssen". Kritikern, die Merkel reines Austeritätsdenken vorwerfen, erwiderte die Kanzlerin, es sei falsch, die Wirtschaftsleistung "in Richtung des europäischen Durchschnitts" anzugleichen. "So könnten uns kommende Krisen wieder hart treffen." Ohne materielle Grundlagen könne Europa weder seine sozialen noch ökologischen Ansprüche erfüllen. Sie sehe im Augenblick eher die Sorge vor einem konjunkturell schwächeren Deutschland.