Merkel vor der Wahl:Mädchen, Mutti, Machtfigur

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Geliebte Übermutti: Angela Merkel beim Bad in der Menge auf Usedom (Foto: dpa)

Ihre Kritiker fragen sich, warum alle Krisen der Kanzlerin nichts anhaben können. Dieses Phänomen lässt sich auch mithilfe der Bindungsforschung erklären. Angela Merkel will zwar keine Madonna sein - aber im kollektiven Unbewussten ihrer Wähler ist sie die schützende Übermutter.

Ein Gastbeitrag von Tilmann Moser

Seit Jahrhunderten wurde Deutschland von Männern regiert, seit acht Jahren ist das "Mädchen von drüben" Kanzlerin. Es hat sich emporgearbeitet und war sogar zu einem Vatermord fähig. Die Umfragen sehen gut für sie aus. Es spricht viel dafür, dass sie Kanzlerin bleiben wird. Warum?

Sie hat wenig offene Herrscherallüren, aber man spricht bewundernd von ihrem Machtinstinkt. Sie macht eine gute Figur auf den Bühnen Europas und der Welt. Sie zwingt ganze Völker in die Tugend des Sparens, und, worüber man am meisten staunt: Sie erträgt ungerührt den Hass dieser Völker; sie ist sich sicher, dass Grausamkeit vor nationalem Leichtsinn rettet. Sie ist keine nur liebe Mutti. Man sieht ihr an, dass sie sich in der überhitzten Küche wohlfühlt. Sie hat die guten und die harten Züge einer alleinerziehenden Mutter, die ihren Mann steht, auch wenn die Kinder mal Probleme machen.

Was kann die Tiefenpsychologie zur Analyse des Phänomens beitragen? Was bindet ein halbes Volk so dauerhaft an eine Gestalt und belohnt sie durch derart gute Umfragewerte? Die Journalisten mögen an ihr herumnörgeln, die Volksmeinung bleibt annähernd konstant. Auch im Wahlkampf bleibt sie der fürsorgliche weibliche Haushaltsvorstand, der sich nicht scheut, für die eigene Familie gute Ideen aus der grünen und roten Nachbarschaft zu übernehmen, als hätte sie nie anders gedacht.

Große Loyalität mit der Kanzlerin

Sie verteilt gerne Küsschen, und wenn sie welche empfängt, tritt ein unnachahmliches Lächeln in ihr Gesicht. Sie erscheint nicht rachsüchtig und wenig nachtragend sowie unerschütterlich guter Stimmung. Sie ist, wie gute Mütter, ausgleichend, beruhigend, gar mit beruhigender Härte begabt. Ihr fehlt die offen männermordende Härte einer Margret Thatcher, sie polarisiert nicht mit gezielter Absicht, leidet nicht an demonstrativem Größenwahn und ist trotzdem von ihrer Unersetzlichkeit überzeugt. Nur Böswillige reden von Wankelmut, wenn sie überraschende Wendungen ausführt und diese plötzlich als alternativlos bezeichnet. Das Volk bewundert das eher als Flexibilität und Fähigkeit, Fehler einzusehen sowie überholte Ansichten fast geräuschlos fallen zu lassen.

Das alles bedingt eine ungewöhnlich große Loyalität der Bürger mit der Kanzlerin. Wählt man Mütter ab, die so viel Ruhe und Zuversicht ausstrahlen? Verstößt man sie, wo sie doch die Familie zusammenhält, kratzt man an ihrem Lack, wo sie doch mit der Kritik der Rivalen so umgeht, als handle es sich um voraussehbares, aber ungefährliches Kläffen?

Die Psychoanalyse arbeitet mit dem Begriff der Übertragung. Frühe Konflikte, Sorgen und vor allem der Wunsch von Kindern nach Geborgenheit heften sich auf eine Figur, von der man Beständigkeit, Überblick, Kraft, Ausdauer erhofft. Sie, die Wissende, soll in Zeiten der Unsicherheit leiten, wo die eigene Orientierungsfähigkeit nicht mehr ausreicht und keine Ideologie oder Religion mehr eindeutige Antworten verspricht.

Diese Übertragung, diese Delegation der Verantwortung, gilt Angela Merkel. Sie wird es schon richten, glauben ihre Anhänger mit fast kindlicher Hingabe. In einem solchen "regressiv" eingerasteten Vertrauen zur Mutter will man keine Veränderung, blendet eigene Zweifel aus, erhebt Vertrauen und Zuneigung zu einer weit über die Tagespolitik hinausreichenden Kategorie. Kinder verteidigen ihre Eltern, idealisieren sie, solange sie keine allzu offensichtlichen Schwächen zeigen oder gar Verbrechen begehen - selbst dies bedeutet noch lange keine Abkehr.

Intellektuelle Kritiker mögen behaupten, sie hätten die Mutter durchschaut oder gar demontiert. Den Kindern gelten sie aber nur als Stänkerer und Ruhestörer. Sie festigen sogar den Familienzusammenhalt, hinzu kommt der Stolz für die Unerschütterlichkeit der alleinerziehenden Mutter, die da das Überleben sichert.

Nimmt man das Modell der politischen Regression ernst, dann spielen tiefere Mechanismen der Bindung, der Loyalität und der Sehnsucht nach Ruhe eine wichtigere Rolle als die Inhalte der Politik. Man lässt nichts mehr auf die Zentralfigur kommen, spaltet innere Zweifel ab, fühlt sich getragen von einer unerklärlichen Zuversicht in ihre Kraft und ihre Weisheit. Ganz Fromme fühlen sich sogar geborgen unter dem Schutzmantel einer fast madonnenhaften Figur.

Angela Merkel will gar keine Madonna sein - aber im kollektiven Unbewussten lebt das archaische Bild der schützenden und versorgenden Mutter. Es immunisiert gegen die Anfechtungen einer undurchsichtigen und gefährlichen Realität. Es wird mit ihr kein durchdachtes Programm gewählt, sondern eine tief in der Seele verankerte Sehnsuchtsgestalt, die so unaufdringlich Stärke vorspielt, dass kein aufbegehrender Trotz oder ein Wunsch nach kantiger Väterlichkeit mehr entsteht. Die Urmutter erscheint nicht als bedrohlich, verschlingend oder grausam. Sie ist weise.

Wählerbindung bei Angela Merkel

Die Psychoanalyse kümmert sich seit einiger Zeit vermehrt um die sogenannt Bindungsforschung. Sie untersucht, wie dauerhafte oder wacklige, gehorsame, liebende, verehrende oder destruktive Bindungen entstehen und warum sie oft ein Leben lang halten. Auch die Politikwissenschaft wie die Wahlforschung haben den Begriff der Wählerbindung in Gebrauch genommen. Er muss aber bei Angela Merkel auf eine tiefere Weise verstanden werden: Es geht um Schutz und Zuversicht in Zeiten der realen oder eingebildeten Gefahr.

Wechselwähler sind Menschen, die nach politischen Überlegungen und durchdachten Motiven ihre Stimme abgeben. Sicher gebundene Kinder aber spielen nicht mit dem Wechsel. Eine "Wechselstimmung" erreicht sie bei ihrer Seelenlage gar nicht. Mutti bleibt Mutti, auch wenn sie mal den Überblick verliert oder in vorübergehendes Taumeln gerät. Es geht um das Spenden von Zuversicht und um ein tieferes Wissen um die Richtung für Menschen, die noch immer dem tröstlichen Choralvers anhängen: "Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl, das macht die Seele still und friedevoll."

Dass ein anderer Kanzlerkandidat vielleicht klüger ist, mehr informierte Worte pro Zeiteinheit hervorbringen kann und auf ironische Weise böse ist, festigt umso mehr die Anhänglichkeit an die unaufgeregt erscheinende Dame, die so viel Erfahrung und internationales Ansehen angehäuft hat und dem kindlichen Stolz das Bild der "mächtigsten Frau der Welt" bietet. Sie ist für viele Gemüter, aber auch für sehr viele kalt kalkulierende Interessensgruppen, zum tröstenden und beruhigenden Urbild geworden, das halb innerweltlich, halb eingetaucht ins kollektive Unbewusste erscheint. Wir werden sie wohl noch vier weitere Jahre behalten (müssen).

Der Psychotherapeut und Publizist Tilmann Moser, 75, hat zahlreiche Bücher über religiöse Neurosen ("Gottesvergiftung") und über politische Psychologie veröffentlicht.

© SZ vom 05.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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