Erst sollte es ein Bildungsparteitag werden, dann einer zu Europa, schließlich einer zum Mindestlohn. Doch am Ende ist es der Parteitag Angela Merkels geworden. Die Macht, ja die Dominanz, die die Vorsitzende heute in der CDU hat, ist noch nie so groß gewesen. Viele haben in der Messestadt über die Zeitenwende in Europa gesprochen. Die Zeitenwende in der CDU war hier am stärksten zu greifen. Formal führt Merkel ihre Partei seit elf Jahren. Eine solche Autorität aber konnte sie ein ganzes Jahrzehnt lang nicht erreichen.
Merkel hat damit geschafft, wovon ein Parteichef nur träumen kann: Es gibt keine Widersacher mehr, die sie herausfordern. Es gibt keine Ministerpräsidenten, die als Korrektiv auftreten. Es gibt keine Strömungen, die ihr in der CDU wirklich gefährlich werden. Mit anderen Worten: Die Partei hat sich ihr ergeben. Merkel beherrscht die CDU, wie das selbst Helmut Kohl nur in der Zeit nach dem Mauerfall erreicht hat.
Doch so umfassend ihr Griff auf die Partei heute ist, so lange ist ihr Weg dorthin gewesen. Viele Jahre stand sie nur formal an der Spitze. Faktisch ist ihre Autorität immer wieder untergraben worden. Sicher, am Anfang freuten sich viele Männer, dass eine Frau nach dem Spendenskandal aufräumen muss. Merkels Versuche hingegen, die Partei neu auszurichten, wurden belächelt, hintergangen oder offen bekämpft. Selbst als sie längst Kanzlerin war, hielten sich Roland Koch, Christian Wulff oder Jürgen Rüttgers für die Besseren - und machten sich zur Opposition im eigenen Lager.
So erlebte die CDU einen Parteitag nach dem anderen, auf dem stets einer an Merkels Stuhl sägte. Fürs Publikum war das vergnüglich, für Merkel war es mühsam. Und die CDU musste damit leben, dass hinter alle Beschlüsse stets Fragezeichen gesetzt wurden. Die Parteiführung konnte entscheiden, was sie wollte - es gab immer den Verdacht, dass sich alles auch wieder ändern könnte. Das ist erst vorbei, seit im vorigen Jahr Roland Koch die Politik verließ, Jürgen Rüttgers seine Wahl verlor und Christian Wulff Bundespräsident wurde. Seit elf Jahren darf sich Merkel Parteivorsitzende nennen. Aber erst anderthalb Jahre ist sie wirklich Parteichefin.
Für die CDU hat die Zeitenwende von Leipzig gravierende Folgen. Niemand kann sich mehr hinter den Kochs oder Rüttgers verstecken. Es gibt keine zweite CDU mehr neben der ersten. Was Merkel sagt, ist Programm, und bestimmt das Bild nach außen. Wer ihr in Leipzig zugehört hat, weiß, was auf ihn zukommt. Merkels Grundsatz heißt nicht, dass vieles gut ist und bleibt, wie es einst beschlossen wurde. Ihre Devise lautet: Die Welt dreht sich schnell, und die CDU überlebt nur, wenn sie mitmacht. Wem bislang schon schwindlig wurde, sollte sich anschnallen.
Allerdings hat Merkel nicht nur ihre Partei verändert. Sie musste sich auch selbst ändern. Dass die CDU heute für ein liberaleres Gesellschaftsbild eintritt, entsprang Merkels eigenem Verständnis. Dass sich in Leipzig mit einem weichen Mindestlohn ein soziales Gewissen artikulierte, ist nicht für die CDU, aber für Merkel etwas Neues gewesen. Die Frau aus dem Osten musste schmerzhaft lernen, dass Wirtschaftspolitik mehr ist als Freiheit, Reform und Aufbruch. Als sie vor acht Jahren, ebenfalls in Leipzig, voller Elan das Steuer- und das Gesundheitssystem umbauen wollte, glaubte sie an die große Chance. Als sie damit bei der Bundestagswahl zwei Jahre später einen Absturz erlebte, begann sie zu begreifen, dass sie als CDU-Vorsitzende nur eine Zukunft hat, wenn sie sich in dieser Frage ändert.
Leipzig 2011 - das ist allerdings auch der Ort, an dem Merkels berühmt-berüchtigte Wandlungsfähigkeit endet. Zehn Jahre hat sie ihre Rolle gesucht und immer wieder gewechselt. Sie hat die Reformerin gegeben, als ihre Kritiker nach Profil riefen. Sie hat als Mutti der Republik regiert, als nur eine große Koalition Macht sicherstellte. Sie gab noch vor einem Jahr die spaltende Konservative, um ihrer schwarz-gelben Koalition Linie zu geben. All diese Rollen hatten nicht nur begrenzten Wert, meistens führten sie in Absturz und Niederlage. Das galt für die Reformerin wie die Atomkraft-Merkel. Beides brachte ihr erst Beifall ein - und dann beim Wähler herbe Rückschläge.
Leipzig II steht dafür, dass sie das erkannt hat. Sie hielt ihre Rede nicht nur frei, sie hat dabei klar gemacht, was sie möchte und was sie macht. Atomkraft, Wehrpflicht, Mindestlohn, Schulreform - überall gab es kein Werben, sondern klare Ansagen, dass sich an diesen Kursänderungen nichts mehr ändert. Sie hat nicht "Basta" gerufen, aber sie hat keine Wahl gelassen. Und das gilt auch für den bisherigen Weg zur Rettung des Euro.
Für die CDU ist das gut und schlecht zugleich. Gut ist, dass die Verhältnisse geklärt sind. Wer sich für die CDU in Wahlkämpfen engagiert, macht das für Angela Merkel. Und wer die Partei wählt, weiß, was er bekommen wird. Doch es ist für eine Volkspartei immer gefährlich, wenn es zur Führung kein Korrektiv gibt. Das mag der Kanzlerin lieb sein, gerade im Kampf gegen die Euro-Krise. Doch auf die Dauer wird die Fixierung auf eine Person die Partei blockieren.