Interview bei Anne Will:Merkel steckt in einem Dilemma

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Angela Merkel verteidigt ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik. (Foto: AFP)

Die Bundeskanzlerin verteidigt bei Anne Will leidenschaftlich ihre Asylpolitik. Doch der Auftritt offenbart auch, wie ohnmächtig die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise ist.

Kommentar von Robert Roßmann

So eine Regierungserklärung hat Deutschland schon lange nicht mehr gesehen. Normalerweise begründen Kanzler ihre Politik im Bundestag. Die meisten Bürger bekommen davon bestenfalls die Schnipsel mit, die die " Tagesschau" zeigt. Wenn der Erklärungsbedarf besonders groß ist, treibt es die Kanzler deshalb direkt ins Fernsehen. Es sind seltene Augenblicke, in denen man beobachten kann, wie Regierungschefs versuchen, sich aus der Defensive zu befreien.

Vier Jahre nach ihrem Auftritt bei Günther Jauch zur Euro-Krise kam Angela Merkel jetzt zu Anne Will, um die Flüchtlingspolitik zu rechtfertigen. Zumindest was die Größe des Publikums angeht, war der Auftritt ein Erfolg: Fast 3,5 Millionen Bürger verfolgten die Talkshow. Doch viel bewegt hat die Kanzlerin damit noch nicht.

Vor den Seehofers dieses Landes wich sie keinen Zentimeter zurück

Wer Merkels Flüchtlingspolitik schon vorher sympathisch fand, war begeistert von der Geradlinigkeit, mit der die Kanzlerin ihren Kurs verteidigte. Sie wich vor den Seehofers dieses Landes keinen Zentimeter zurück. Im Gegenteil: Sie untermauerte ihre Position mit einer Leidenschaft, die sie ansonsten vortrefflich zu verbergen weiß. Zäune würden das Problem nicht lösen, erklärte die Kanzlerin apodiktisch. Auch einen Aufnahmestopp könne es nicht geben. Jeder Mensch müsse als Mensch behandelt werden.

Bundeskanzlerin bei Anne Will
:"Ich habe aus meinem Herzen gesprochen"

Es ist eine neue Kanzlerin, die da bei Anne Will sitzt. Angela Merkel verteidigt ihren Kurs in der Flüchtlingskrise, die schon längst zu ihrer Krise geworden ist.

Von Thorsten Denkler

Und dann bekräftigte Merkel auch noch ihre Erklärung, Deutschland sei nicht ihr Land, wenn man sich dafür entschuldigen müsse, Flüchtlingen freundlich gegenüberzutreten. Diesen Satz habe sie "aus dem Herzen gesprochen", sagte die Kanzlerin. Die Botschaft der Pastorentochter war eindeutig: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Ihre Gegner dürfte Merkel mit diesem Auftritt aber nicht überzeugt haben. Das liegt nicht nur daran, dass die Debatte so stark polarisiert ist, dass niemand mit einem einzigen Fernsehauftritt die Fronten aufweichen kann. Es lag auch daran, dass Merkel auf die konkreten Probleme in Deutschland kaum einging.

Die Befürchtungen vieler Bürger, auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt künftig ins Hintertreffen zu geraten, waren Merkel fast keinen Satz wert. Lösungen präsentierte sie erst recht nicht. Auch die Überforderung der Kommunen, der Bundespolizei oder des Bundesamtes für Migration spielte kaum eine Rolle. Das galt auch für die Herausforderungen an Kitas und Schulen. Genau das sind aber die Sorgen, die viele umtreiben. Die Kanzlerin sprach stattdessen abstrakt von "Prozessen", die verbessert werden müssten, oder Signalen der Ordnung, die nötig seien. Auch Merkels beinahe suggestive Beteuerung "Wir schaffen das" hilft keinem zweifelnden Bürger.

Der Auftritt offenbarte auch Merkels Dilemma

Dass die Kanzlerin in den vergangenen Wochen in die Defensive geraten ist, liegt aber nicht nur daran. Merkel hat vor allem ein strukturelles Problem. Sie ist zwar die mächtigste Frau Europas - in der Flüchtlingskrise ist sie aber ziemlich ohnmächtig. Im Instrumentenkasten der Kanzlerin liegt nichts, mit dem sie den Zustrom nach Deutschland aus eigener Kraft entscheidend stoppen könnte.

Merkel hat ja recht: Deutschland kann seine Grenzen nicht schließen. Um die Flüchtlinge von der Einreise abzuhalten, müsste eine Mauer ums ganze Land gebaut werden. Selbst eine Beschneidung des Grundrechts auf Asyl würde nicht helfen. Der Großteil der Flüchtlinge wäre dann immer noch durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt.

Merkel kann auch nicht alleine die Situation in den Flüchtlingslagern verbessern, die Außengrenze der Europäischen Union sichern oder gar den Krieg in Syrien beenden. Sie kann nur verhandeln, bitten und betteln. Da eine Kanzlerin aber schlecht ihre Ohnmacht öffentlich eingestehen kann, steckt Merkel in einem unauflösbaren Dilemma. Und das merkte man ihrem Auftritt bei Anne Will auch an.

© SZ vom 09.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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