Als vor zwanzig Jahren bei mehreren Bombenanschlägen in Moskau 200 Menschen ums Leben gekommen waren, versprach der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin, die Täter notfalls "bis aufs Klo" zu verfolgen und dort kaltzumachen. Auf die Frage nach dem Mord an einem Georgier im Kleinen Tiergarten in Berlin hat Putin nun an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel sinngemäß ähnlich geantwortet. Er zählte die angeblichen Verbrechen von Selimchan Changoschwili auf, bezeichnete ihn als "Banditen", der viele Menschen, auch in Moskau, auf dem Gewissen habe, und erklärte, dass jemandem "alles Mögliche passieren" könne. Vor Gericht wäre das nicht verwertbar - aber politisch kommt es einem Geständnis sehr nahe.
Damit bleibt sich Putin treu. Auch als sein Geheimdienst 2018 in Großbritannien mit einem Nervengift einen Anschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal verübt hatte, stritt Putin einerseits für offizielle Zwecke jede Verantwortung ab. Das gab ihm die Möglichkeit, die Strafmaßnahmen des Westens wie üblich als ungerecht zu brandmarken. Andererseits sollte schon jeder wissen, wie Russland mit Überläufern verfährt - und dass sie nirgendwo auf der Welt sicher sind.

Russland:Putin: Ermordeter Georgier in Berlin war ein "Bandit"
Im Streit über den mutmaßlichen Auftragsmord in Berlin kündigt Russlands Präsident die Ausweisung zweier deutscher Diplomaten an. Man wolle aber bei der Aufklärung unterstützen.
Eine Kostprobe derselben Doppelzüngigkeit hat Putin jetzt während des Ukraine-Gipfels in Paris präsentiert. Einerseits stritt er eine russische Verantwortung für den Mord in Berlin ab und beklagte die Ausweisung zweier russischer Diplomaten, andererseits wollte er keinen wirklichen Zweifel daran lassen, dass den Georgier tschetschenischer Herkunft nur seine gerechte Strafe ereilt habe. Schließlich habe es Deutschland versäumt, den Mann wie gewünscht an Russland auszuliefern.
Putin hat bewiesen, dass er Grenzen respektieren kann
Deutschland hat es hier also mit einem doppelten Kriminalfall zu tun. Zur einen Hälfte ist er juristischer, zur anderen Hälfte politischer Natur. Juristisch muss es darum gehen, den Fall trotz der Moskauer Obstruktion im Verfahren gegen den in Berlin inhaftierten russischen Tatverdächtigen so gut es geht aufzuklären. Dafür ist es egal, ob Putin den in Berlin getöteten Georgier zu Recht oder zu Unrecht des Terrorismus bezichtigt. Der deutsche Rechtsstaat hat nicht zu unterscheiden zwischen schlimmen und weniger schlimmen politischen Morden.
Politisch ist es die Pflicht der Bundesregierung, dem russischen Präsidenten Grenzen aufzuzeigen. Der Kremlchef glaubt nicht an die Stärke des Rechts, sondern nur an das Recht des Stärkeren. Die Frage, ob er Regimegegner, Überläufer oder angebliche Terroristen im Ausland töten lässt, wird für ihn daher immer eine Frage des Preises bleiben. Bliebe es im Tiergarten-Fall bei der Ausweisung von zwei Diplomaten, wäre das ein Schnäppchen.
Kanzlerin Angela Merkel, die in Paris vorsichtig von einem "Anfangsverdacht" gesprochen hat, steht nun vor dem alten Dilemma. Einerseits braucht sie eine vernünftige Arbeitsbeziehung zu Putin, nicht zuletzt, um beim Friedensprozess in der Ukraine voranzukommen. Andererseits muss sie der Gefahr begegnen, die von einem Kremlchef ausgeht, der auch im Westen frei schalten und walten zu können glaubt. Je mehr sich der "Anfangsverdacht" erhärtet, desto zwingender werden weitere Strafmaßnahmen. Putin ist seit zwanzig Jahren an der Macht. In dieser Zeit hat er bewiesen, dass er durchaus in der Lage ist, Grenzen zu respektieren. Allerdings nur, wenn sie gut gesichert sind.