30 Jahre Mauerfall:Wie ein ostdeutscher Code zum Interview mit Angela Merkel führte

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"Es entwickelt sich" - ein Zitat, das nur Manfred-Krug-Freaks oder ehemalige DDR-Bürger kennen würden.

(Foto: dpa)

Mit einer Kult-Satire aus der DDR und einem Gedicht ausgerüstet kommen zwei SZ-Journalisten zum Interview mit der Kanzlerin. Und entlocken ihr persönliche Erinnerungen an die Zeit des Mauerfalls.

Von Nico Fried und Cerstin Gammelin, Berlin

Der Nachmittag war schon ins Dunkel geglitten, an diesem 4. November. Der ja einer der historischen Tage der deutschen Wiedervereinigungsgeschichte ist. Vor genau dreißig Jahren, also am 4. November 1989, hatten Hunderttausende Ostdeutsche auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin für Demokratie, Meinungsfreiheit und Reformen demonstriert. Der Aufbruch führte fünf Tage später mit zum Fall der Mauer. Und knapp sechzehn Jahre später mit zur ersten ostdeutschen Kanzlerin. Angela Merkel. Und punktgenau 30 Jahre nach dem mutigen Aufbruch nimmt sich Angela Merkel, noch immer im Amt, eine Stunde Zeit, um ganz persönlich zurück und nach vorne zu blicken.

Offen wie selten spricht sie über die Mühen der damals noch unter den Bedingungen der Diktatur errungenen Freiheit. Und über die teilweise "gespenstische" Debatte zur Meinungsfreiheit heute, in einer etablierten Demokratie. Man lernt, dass sie auch mal die Frauenzeitschrift Sibylle las und noch heute gerne im Backbuch von damals blättert. Dass es ein Leben zwischen Bürgerrechtlern und Stasi gab, dass sich viele Menschen bemühten, ordentlich zu leben. Sie spricht darüber, wie stark ihr späterer Regierungsstil von persönlichen Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend im Osten geprägt ist - und wie schnell sich Ostdeutsche in Gesprächen erkennen: an einem Wort, einem Satz, den man aus der Jugend kennt.

Eine satirische Erzählung mit Kultstatus in der DDR

Genau auf so einen ostdeutschen Code geht auch dieses persönliche Interview der Kanzlerin zurück. Es war im Mai, als sie in einer kleinen Runde auf die Frage, wie es mit der großen Koalition eigentlich weitergehe, kurz lächelnd mit dem Satz antwortete "Es entwickelt sich". Und "Manfred Krug". Sie schaute die Reporterin an. Und, ja, sofort war klar, was sie meinte. "Die Kuh im Propeller". Merkel schaute kurz. "Genau". Die Kuh im Propeller? Keine Ahnung, werden wohl hier viele sagen, die Manfred Krug aus dem Tatort kennen. Und als Liebling Kreuzberg. Aber eine Kuh im Propeller? Die können nur Manfred-Krug-Freaks aus dem Westen kennen - und eben ehemalige DDR-Bürger.

So heißt nämlich eine satirische Erzählung des Autors Michail Soschtschenko aus dem Jahre 1923, die Manfred Krug Mitte der 1960er Jahre fabelhaft in Ost-Berlin vorträgt - und die in der DDR regelrecht Kultstatus erreicht. Es geht darum, dass ein Sowjetfunktionär aufs Land zu den ungebildeten Bauern geschickt wird, um Geld für ein Flugzeug zu sammeln. Unbeholfen redet der Genosse auf die Bauern ein, spricht über das Flugwesen, "es entwickelt sich" - er agitiert, agitiert und agitiert, bis die Bauern verärgert nach Hause gehen. Geld hat er nicht bekommen. Angela Merkel erzählt im Interview, wie sie damals verinnerlicht hat, dass indoktrinieren oder Angst machen meist zu nichts führt außer zur gegenteiligen Reaktion. Und dass sich diese Erfahrung auch in ihrem Regierungsstil widerspiegelt.

Die Erinnerung an Manfred Krug jedenfalls ist es, die sechs Monate später zu einem persönlichen Interview mit der Kanzlerin führt. An diesem denkwürdigen 4. November spricht die aus Ostdeutschland stammende deutsche Bundeskanzlerin mit der SZ, die sozusagen gesamtdeutsch erschienen ist. Eine Kollegin aus der Ex-DDR, ein Kollege aus dem Westen. Auf dem Tisch die Platte zur Kuh im Propeller. Und ein Gedicht, von dem später noch die Rede sein wird.

Angela Merkel wirkt konzentriert, anfangs vielleicht ein wenig angespannt. Es geht ja um persönliche Erinnerungen. Aber das gibt sich zügig, dann dauert das Gespräch über den Osten und sie selbst länger als geplant.

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